«John Wayne bewegte sich wie eine Prinzessin»
Paul Schrader und Daniel Brühl, die sich vorher nicht kannten, sprachen am ZFF über die Kunst des Filmemachens und darüber, wie man mit eitlen Schauspielern umgeht.
Als Paul Schrader in Zürich weilte, um am Zurich Film Festival (ZFF) den Preis für sein Lebenswerk entgegenzunehmen, und gleichzeitig Daniel Brühl der Jurypräsident war, mussten wir die Gelegenheit nutzen, um mit den beiden über die Kunst der Regie zu reden.
Der 75-jährige Amerikaner, der mit seinen Drehbüchern zu «Taxi Driver» und «Raging Bull» Filmgeschichte geschrieben hat und am ZFF sein neustes Werk, «The Card Counter», vorstellte, traf in der schummrigen Bibliothek des Hotels «Dolder Grand» zum ersten Mal auf Daniel Brühl.
Erstaunlich eigentlich. Immerhin ist der deutsche Schauspieler, der sich mit «Nebenan» erstmals auch im Regiefach versucht, regelmässig an der Seite von Hollywoodstars zu sehen.
NZZ am Sonntag: Herr Schrader, wenn Daniel Brühl immer noch nur Schauspieler wäre und Sie fragen würde, ob er ins Regiefach wechseln solle, was würden Sie zu ihm sagen?
Paul Schrader: Viele Schauspieler haben schon sehr gute Filme gemacht. Tom Hanks mit «That Thing You Do» zum Beispiel. Aber es ist sehr viel Arbeit. Du bist es nicht gewohnt, so viel zu arbeiten für so wenig Geld. Regie bedeutet die totale Hingabe.
Haben Sie Daniel Brühls Komödie «Nebenan» gesehen?
Schrader: Ich habe nur die Hälfte geschafft, muss ich gestehen. Sie haben mir den Link geschickt, aber dann bin ich eingeschlafen. Der Jetlag ist schuld, ich kam gerade erst an aus New York. Am Tag darauf war der Link abgelaufen.
Daniel Brühl: Sie haben es wenigstens nochmals versucht. Das bedeutet mir viel!
Herr Brühl, Sie haben bei «Nebenan» das erste Mal Regie geführt. Was ist es eigentlich, was ein Regisseur macht? Wir sehen ja nur das Resultat auf der Leinwand.
Brühl: Du machst einfach alles. Es ist – das ist eine alte Analogie, aber sie stimmt –, wie wenn du der Kapitän bist und ein grosses Schiff über den Ozean führen musst. Du hoffst, dass das Meer schön ruhig bleibt.
Schrader: Ja, das kann man ziemlich wörtlich nehmen. Immer ist irgendwas. Man kann es sich so vorstellen: Du bist mitten in einem Gespräch und glaubst, du hörst es an der Tür klopfen. Du siehst nach, aber es ist niemand da. Aber unterbrochen worden bist du.
Brühl: Genau! Immer stellt jemand eine Frage.
Schrader: Irgendwann im Verlauf merkst du: Das ist es, wer ich bin: die Akkumulation von lauter kleinen Entscheidungen. Soll die Kamera hier stehen oder dort? Soll der oberste Hemdknopf offen oder zu sein? So geht das ohne Unterlass.
Brühl: Ein Regisseur gab mir den Ratschlag: Du musst unbedingt eine Entscheidung treffen, selbst wenn es eine schlechte ist. Ich habe verstanden, was er meinte, als ich dann zum ersten Mal Regie führte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so unglaublich viele Fragen geben würde. Jeden Tag. Das schöne Gefühl bleibt aber, dass du allein für alles verantwortlich bist. Selbst wenn das besagte Schiff untergeht – ich habe es so gesteuert, wie ich es steuern wollte. Ich will niemanden, der mir reinredet. Es gibt ja diese Produzenten, die glauben . . .
Schrader: . . . das Casting ist aber genauso wichtig. Falsches Casting kann alles ruinieren.
Was machen Sie als Schauspieler, wenn Sie spüren: Oje, ich passe nicht in diese Rolle, das funktioniert überhaupt nicht?
Brühl: Das Gefühl hatte ich nie! Nein, im Ernst. Das ist eine schlimme Situation. Du versuchst natürlich das Beste zu geben. Trotz allem.
Schrader: Casting ist Schicksal. Wenn du jemanden falsch besetzt hast – das ist mir ein paarmal passiert, aber ich werde hier nicht sagen, wo –, dann musst du irgendwann einsehen: Ich kann nichts machen. Du kannst dich selbst belügen und dich durchmogeln, aber du weisst genau: Ich hätte jemand anderen auswählen sollen.
Oscar Isaac in «The Card Counter» sieht von aussen betrachtet nach der genau richtigen Wahl aus.
Schrader: Nach dem ersten Drehtag sagte ich zu ihm: «Oscar, du wirst gut sein in diesem Film.» Er meinte: «Aha, das hast du jetzt erst gemerkt?» Ich sagte: «Man kann nie wissen.»
Brühl: Der erste Tag ist der Tag der Wahrheit. Ich finde das immer seltsam, wenn Leute diese Möchtegern-Freizeitatmosphäre mit hyperguter Laune schaffen wollen auf dem Set. Dabei ist doch jedem klar, dass alle extrem angespannt sind.
Falls man sich nicht wohl fühlt, schauspielert man also für die Kamera und das ganze Team. Oder gibt man seiner Verzweiflung Ausdruck?
Schrader: Nein, man muss sich irgendwie finden, eine Beziehung aufbauen. Das geht am einfachsten beim Proben. Da kannst du machen, was du willst. Ich kann sagen: «Kommt, wir spielen diese Szene liegend.» Den Dialog in dieser ungewöhnlichen Position zu sprechen, öffnet den Geist. Beim Drehen geht das nicht. Da ist der Zeitdruck zu gross.
Brühl: Ich weiss noch, wie genervt ich einmal war, als ich das Gefühl hatte, der Regisseur gebe mir nicht genügend Zeit, um meine absolut brillante Idee auszuprobieren. Jetzt, als Regisseur, habe ich verstanden, was für einen Stress das bedeutet, wenn all die Schauspieler mit solchen Ideen kommen.
Schrader: Genau dafür sind die Proben so wichtig. Aber diese werden immer weniger, das ist eine der Schattenseiten des heutigen Filmgeschäfts. Klar, bei manchen Filmen geht es ohne, aber bei Figuren, die komplex sind, probierst du ihre Zeilen besser vorher aus. Es kann vorkommen, dass ein Schauspieler beim Dreh fragt: «Wieso sagt die Figur das jetzt?» So was willst du dann nicht hören.
Was passiert, wenn Sie als Schauspieler dachten, aufgrund des Drehs müsste das eigentlich ein toller Film werden – aber dann sehen Sie das Resultat und sind enttäuscht?
Brühl: Ich rede mal als Regisseur. «Nebenan» wollte ich als ein Kammerspiel drehen. Da sind diese zwei Typen an der Bar, das ist ein einfaches Setting. Mein Cutter hat mir schon früh Ausschnitte gezeigt, da blieben böse Überraschungen aus.
Schrader: Moment – ich würde gerne wissen, wie eure Takes waren. Theoretisch hättet ihr ja einen einzigen machen können, der eine Stunde dauert, weil es ein Zweipersonenstück ist.
Brühl: Das haben wir zum Teil so gemacht, weil ich die Doppelfunktion innehatte. Ich wollte als Darsteller in der Szene voll anwesend sein, aber ohne zu glauben, ich müsse bereits ein Regieurteil fällen. Länger als acht Minuten waren die Takes normalerweise nicht.
Schrader: In «The Comfort of Strangers» arbeitete ich an einer Szene mit Christopher Walken, es waren vielleicht zehn Seiten Text. Walken meinte, das klappe nur, wenn er die ganze Szene ohne Unterbruch durchspielen könne. Wir machten das, und dann – flapp, flapp, flapp – war die Filmrolle zu Ende! Ich wollte ihn unbedingt ohne Unterbruch filmen, vielleicht war er ja brillant, also sagte ich zu ihm: «Gut, du hast zehn Minuten für die Szene.» Und er spielte sie exakt aufs Rollenende fertig.
Brühl: Ja, die Celluloid-Zeit. Das letzte Mal, als ich das erlebt habe, war auf dem Set von «Inglourious Basterds» von Quentin Tarantino. Die Anspannung und Aufregung, weil du weisst: Wir drehen nicht digital, sondern auf echten Film. Das ist schon besonders.
Verändert das Ihr Spiel?
Brühl: Dieses kostbare Material in der Kamera macht schon fast ehrfürchtig. Du weisst, jetzt musst du liefern.
Schrader: Das Celluloid hat uns in gewisser Weise geschützt. Wenn eine Szene grossartig war, hast du nicht nochmals probiert. Heutzutage, wo digital gedreht wird, kannst du immer noch weiter machen.
Herr Schrader, Sie sagten: «Ich wusste, wenn ich nicht über Travis Bickle schreibe, dann werde ich zu ihm.» Wie wichtig oder gefährlich ist Persönliches für Sie beide bei der Arbeit?
Brühl: Ich wollte mit meinem Regiedebüt eine persönliche Geschichte erzählen, statt mir etwas zuzumuten, was ich nicht tragen kann. Also kein Historienfilm, der im 18. Jahrhundert spielt. Ich habe schon vor zehn Jahren angefangen, an «Nebenan» zu schreiben, aber mir nicht zugetraut, die Regie zu übernehmen. Ich bin kein Filmemacher, ich habe bloss einmal Regie geführt und würde es gerne wieder tun. Paul Schrader ist ein Filmemacher, nicht ich!
Schrader: Für mich war es damals eine aussergewöhnliche Situation. Mir ging es nicht besonders gut, und ich fühlte mich bedroht von dieser Dunkelheit in mir. Ich musste da raus. Zum Glück konnte ich das Drehbuch für «Taxi Driver» schreiben.
Es heisst doch immer, Künstler müssten leiden.
Schrader: Und im Kino werden sie so dargestellt. Aber Filme über Künstler funktionieren nie, wenn man einfach das leidende Genie zeigt. Das ist kein Zustand, in dem man leben sollte. Aber manche können nicht anders. Method-Actors zum Beispiel. Jemand hat mir einmal von einem frühen Film mit Sean Penn erzählt. Er habe sich vor dem Dreh eine brennende Zigarette in der Hand ausgedrückt. Jemand habe dann zu ihm gesagt: «Sean, du musst das nicht machen, du kannst Schmerz auch so darstellen.»
Herr Brühl, machen Sie so was auch?
Brühl: Nein. Aber wenn das Resultat eines ist, wie Sean Penn oder Daniel Day-Lewis es hervorbringen, dann habe ich Respekt davor. Wenn jemand aber nicht so toll ist wie diese beiden, dann finde ich solches Tun extrem nervend.
Wieso?
Brühl: Die Method-Actors, mit denen ich zu tun hatte, haben sich in ein Korsett gesteckt. Sie konnten nicht mehr reagieren, wenn der Regisseur etwas ganz anderes verlangte. Ich ziehe es vor, in meine Figur rein- und wieder rauszuschlüpfen.
Schrader: Es gibt ja die Situation, dass ein Schauspieler sich löst von dem, was ausgemacht war und etwas Unvorhergesehenes macht. Vielleicht, um dich zu testen. Was machst du dann? Machst du mit? Klemmst du es ab und bleibst beim Buch?
Brühl: Schwierig . . .
Schrader: Bei «Blue Collar», meinem ersten Film, machte Richard Pryor ständig alles anders, als besprochen war, und versuchte, seinen Kollegen Harvey Keitel herauszufordern. Aber der blieb unbeeindruckt. Hattest du je diese Situation?
Brühl: Ja, bei «Nebenan». Ich sage nicht, wer es war, und es war auch nicht der grosse Peter Kurth. Da kommt eine Form von Narzissmus zum Ausdruck von Schauspielern, die glänzen wollen, aber Nebenrollen spielen. Das sind entweder Psychospiele, oder es handelt sich um die Annahme, man könne etwas ganz Besonderes beitragen. Aber das ist fast nie der Fall. Als Schauspieler musst du das Ganze verstehen oder wenigstens die ganze Szene. Innerhalb dieses Rahmens kannst du dann überrascht werden oder den Regisseur überraschen. Wenn es zur Figur passt, kann das toll sein. Aber wenn es übertrieben ist und nichts mit dem Kontext zu tun hat, dann nervt es nur.
Schrader: Schauspieler können sehr kompetitiv sein. Wenn du als Darsteller was Lustiges sagst, und jemand lacht im Off, aber wenn du dich umdrehst, ist Ruhe, da fragst du dich: Ja was denn nun? War ich jetzt lustig oder nicht?
Brühl: Ich finde solches Verhalten sehr dumm. Das gemeinsame Ziel ist doch, die bestmögliche Szene hinzubekommen. Wenn du nur blödeln willst, um die anderen zu nerven, oder wenn plötzlich einer verschwindet und der Regisseur die Zeilen lesen muss, das hilft niemandem. Alles schon geschehen.
Schrader: Warum müssen Schauspieler eigentlich keine IQ-Tests machen?
Das vertiefen wir jetzt lieber nicht. Reden wir stattdessen über die einsamen Männer, von denen Sie beide erzählen. Was hat es mit diesen auf sich?
Schrader: Mein Prototyp ist die existenzielle Figur aus der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Dostojewski, Sartre, Camus. Diese Art der Tradition gab es im Film nicht. Die Figur des Travis Bickle aus «Taxi Driver» ist ein Abkömmling dieser literarischen Tradition, und ich bin einfach immer wieder dahin zurückgekehrt.
Wieso?
Schrader: Ich mag den existenziellen Helden. Einer, der von sich selbst nicht weiss, ob er überhaupt existieren sollte. Die Frage ist dann, wie man das im Film darstellt. Natürlich ohne dass die Figur es so sagt. Sobald sie das in Worte fasst, ist sie tot.
Über die Jahre haben sich die Vorstellungen von Männlichkeit verändert. Hat das Ihren existenziellen Helden beeinflusst?
Schrader: Das Bild hat sich auf beide Seiten verändert. Kennen Sie den Begriff «toxische Männlichkeit»?
Kenne ich.
Schrader: Es gibt diese Form, aber auch den sehr sanften Mann. In der Vergangenheit waren die zu sanften Männer die Homosexuellen und die zu harten die Bösewichte. Heute kann man mit diesen Ausprägungen spielen. Das Publikum akzeptiert beide. Man sagt nicht mehr: «Der sieht schwul aus», sondern: «Das ist, wer er ist.» Selbst wenn er nicht weiss, wer er ist. Die grossen Schauspieler sind pansexuell und können beides spielen. Das war schon immer so. Nehmen wir John Wayne. Schauen Sie sich seinen Gang an. Der geht nicht auf seinen Fersen, sondern auf den Fussballen. Er trägt diese schweren Cowboystiefel, bewegt sich aber wie eine Prinzessin. Wir sehen das, aber zugleich auch nicht. Es sind subtile Signale, die diese grossen Schauspieler aussenden können.
Herr Brühl, was ist der Mann in Ihrem Film für einer?
Brühl: Ihm ist überhaupt nicht wohl in seinem Körper. Er hat sich selbst verloren. Er implodiert.
Sie sagten, Sie hätten für Ihr Debüt eine persönliche Geschichte erzählen wollen. Wie viel von Ihnen selbst steckt in diesem Daniel?
Brühl: Ich wollte eine dunkle Komödie über meine eigene Rolle als Schauspieler drehen. Über die Oberflächlichkeit, mit der man es da zu tun bekommt: die Selbstdarstellung auf Social Media, um ein Image von sich zu erschaffen. Aber wenn jemand ein wenig an der Fassade kratzt, bleibt nicht viel übrig. Dieser Typ ist einfach ein Loser. Aber um auf die sich verändernden Männer zurückzukommen: Ich fand gut, was als wichtige Bewegung anfing. Aber jetzt entstehen daraus extreme moralische Codes. Wann immer so etwas in der Filmgeschichte geschah, das musste gebrochen werden. Das tut vielleicht weh, aber das sind die interessanten Geschichten, nicht diese zahmen, konservativen, gemütlichen Storys.
Schrader: Montgomery Clift war so eine Explosion. Der erste männliche Filmstar, der diese andere, feminine Seite hatte.
Brühl: Oder auch James Dean.
Schrader: Marlon Brando auch. Die waren das Gegenteil von Clark Gable und Spencer Tracy.
Brühl: Genau. Aber jetzt müssen wir wieder so aufpassen, weil alles irgendwie nicht korrekt sein könnte.
Bei den Amazon-Studios dürfen jetzt nur noch homosexuelle Menschen Homosexuelle spielen.
Schrader: Oje, ja.
Brühl: Das nimmt die ganze Freude an unserer Arbeit. Irgendwann wird das die Kunst abtöten.
Wir brauchen ein neues «New Hollywood».
Schrader: Absolut.
Zuerst erschienen am 7. 10. 2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Salvatore Vinci)