Kampf um die Nische
Die SRG lanciert 2020 ihre eigene Streaming-Plattform. Während der Bund noch evaluiert, haben Private die Idee umgesetzt. Streaming soll auch die Sichtbarkeit des Schweizer Films erhöhen. Nur: Zu viele ähnliche Plattformen kannibalisieren sich gegenseitig
Es gibt ein Problem mit den Schweizer Filmen: Sie sind unsichtbar. Wenn man sich vornimmt, endlich «Höhenfeuer» von Fredi Murer zu sehen, muss man warten, bis das Inzestdrama entweder im Fernsehen oder im Rahmen einer Kinoretrospektive läuft. Man kann sich die DVD bei Amazon bestellen oder hoffen, dass die nächste Bibliothek ein gut sortiertes DVD-Angebot hat. Nur da, wo man sich Filme heute normalerweise anschaut, sind Schweizer Werke nur schwer auffindbar: online. Das ist schlecht in einer Zeit, wo man sich daran gewöhnt hat, im Internet alles und das sofort zu bekommen.
Während man in der Schweiz der zunehmenden Marktmacht von Netflix, Amazon und anderen grossen Video-on-Demand-Anbietern wie bald auch Disney+ abwartend gegenüberstand – und wir uns an die Angebote aus dem Ausland gewöhnt haben –, soll sich das jetzt ändern: Bund, SRG, einzelne Verleiher, die Solothurner Filmtage und auch Private haben erkannt, dass es in der Schweiz ein besseres Angebot von Video-on-Demand (VoD) braucht. Die einen wollen teilhaben am stetig wachsenden Streaming-Markt, die anderen wollen die Visibilität des Schweizerfilms steigern.
Ivo Kummer, Filmchef beim Bundesamt für Kultur (BAK), wurde nach den Solothurner Filmtagen zitiert, der Bund plane eine Gratisplattform für Schweizerfilme, eine Art «Swissflix». Das war eine Ente. Von gratis sei nicht die Rede gewesen, sondern von einem «freien Zugang», stellt BAK-Sprecher Laurent Steiert richtig. «Das BAK verfolgt das Ziel, dass geförderte Schweizer Filme künftig nach der erfolgten gewerblichen Auswertung für die Öffentlichkeit niederschwellig zugänglich bleiben.» Man wolle aber keine eigene Plattform aufbauen und finanzieren, sagt Steiert. «Denkbar wäre ein Filmverzeichnis mit Links oder Hinweisen, wo die Filme verfügbar sind.»
Zu viel vom Gleichen
Genau das macht schon filmo.ch. Die Plattform, initiiert von den Solothurner Filmtagen und dem Förderfonds Engagement Migros, ist seit 6.Juni 2019 online. Man wolle «Filmklassikern nachhaltig mehr Sichtbarkeit im digitalen Raum verschaffen», liest man auf der Seite. Expertinnen und Experten stellen zurzeit eine Auswahl von zehn Schweizerfilmen vor, die zwischen 1945 und 2008 entstanden sind, der jüngste ist «Home» von Ursula Meier. Streamen kann man sie nicht. Stattdessen verweisen Links einen weiter zu VoD- oder Pay-TV-Anbietern wie Teleclub, Sky, iTunes, oder die Plattform leKino.ch.
LeKino.ch, 2012 gegründet, ist spezialisiert auf internationales Independentkino und bietet auch Schweizer Produktionen an. Auf Artfilm.ch, 2004 lanciert, findet man 600 Schweizer Filme. Diese beiden Plattformen haben 2018 Konkurrenz bekommen von cinefile.ch, der Website von Andreas Furler, die Kinoprogramm und VoD-Anbieter in einem ist. Furler setzt auf Diversität: «Wir ziehen keine Grenzen zwischen Arthouse oder Mainstream, Genres oder Weltregionen. Einziges Kriterium ist, ob uns ein Film gefällt.»
Auch die SRG ist mit dem Aufbau einer Streaming-Plattform beschäftigt. Sie wird 2020 in Betrieb gehen. Hier sollen Ko- und Eigenproduktionen von SRF, RTS, RSI und RTR zugänglich sein, ob Spielfilm oder Dokumentarfilm. Gratis. Man zahlt ja schon Gebühren. «Wir haben in den letzten Jahren über 2000 Koproduktionen realisiert und möchten auch möglichst viele davon auf unserer Plattform zeigen. Dafür müssen wir mit den Rechteinhabern einen Tarif aushandeln», sagt Sven Wälti, Leiter Film der SRG. Nicht alle Filme werden ständig zugänglich sein: Für welche Dauer die SRG die Rechte bekommt, ist Verhandlungssache.
«Der Ansatz ‹weil die Bevölkerung ja bereits Gebühren zahlt, soll es gratis sein› ist eine Perversion der Gratiskultur, die nicht nur bedauernswert ist, sondern vor allem falsch», sagt Hein Dill, Präsident des Schweizerischen Produzentenverbands. «Die Schweizer Bevölkerung zahlt für vieles Gebühren, trotzdem käme niemand auf die Idee, gratis Zug fahren zu wollen.» Was die von der SRG koproduzierten Filme betrifft, so wollen die Schweizer Produzenten, dass «die Filme, die im Rahmen einer Koproduktion hergestellt werden, auf einer von der SRG geführten Plattform entschädigungspflichtig und während eines beschränkten Zeitfensters verfügbar sind». Das entspreche der heutigen nationalen und internationalen Rechtspraxis.
Alle diese Plattformen versuchen sich einen Platz in der Streaming-Welt zu erobern, in der sowieso schon ein brutaler Verdrängungskampf herrscht, seit Netflix 2016 zur global agierenden Firma wurde.
Milliardenmarkt Europa
Wie das Magazin «The Hollywood Reporter» berichtete, wird in Deutschland die RTL Group in den nächsten drei Jahren 3,5 Milliarden Euro in einen VoD-Dienst investieren, der in ganz Europa zugänglich sein soll. RTL denkt lokal statt global und wird versuchen, sich mit deutschsprachigen Serien von Netflix und Amazon abzuheben. Die BBC will zusammen mit dem Sender ITV «BritBox» aufbauen, wo ebenfalls einheimische Produktionen laufen sollen. Andere versuchen, sich mit Abopreisen, die knapp unter demjenigen von Netflix liegen, gegen den Konkurrenten durchzusetzen. «Canal+Series» kostet nur 7 Euro im Monat. Das Projekt «CanalPlay» ist 2018 gescheitert. Netflix hat es verdrängt. Der Konzern kontrolliert zurzeit 70 Prozent des französischen Streaming-Markts.
Laut einer Schätzung von Kagan Research soll der europäische VoD-Markt zurzeit 6 Milliarden Euro wert sein, in zwei Jahren bereits 7 Milliarden. Klar, wollen da alle mitmachen. Bloss ist das Angebot jetzt schon so gross und unübersichtlich, dass man sich als Konsumentin fragt, was man überhaupt abonnieren soll. Das Problem ist: Viele der bereits existierenden und geplanten Plattformen sind sich so ähnlich, dass sie einander eher das Publikum streitig machen, als den Streaming-Monopolisten etwas entgegenhalten zu können.
«In der Nische kann sich nur noch profilieren, wer kuratiert», sagt Andreas Furler. Mubi, 2007 von Efe Çakarel gegründet, ist eine kuratierte Arthouse-Seite. Man bezahlt 12 Franken pro Monat und bekommt jeden Tag einen neuen Film, der während eines Monats verfügbar ist. Das Verfalldatum hält einen an, sich die Filme zu merken, die man sehen will, und immer wieder auf die Seite zurückzukehren. Mubi arbeitet mit Produktions- und Distributionsfirmen und ausserdem mit Kinoketten zusammen, was es möglich macht, einzelne Filme auf der Leinwand zu zeigen. Dank Partnerschaften mit der Berlinale und mit Cannes kann Mubi während der Festivals jeweils Kurzfilme früherer Jahrgänge zur Verfügung stellen.
Wer Mubi abonniert hat, löst vermutlich kein zusätzlich ein Abo bei filmingo, der Plattform der Stiftung trigon-film. Die ist seit März 2019 in Betrieb, kostet 9 Franken pro Monat und bietet ebenfalls eine kuratierte Auswahl an Arthouse-Filmen. Filmingo «lädt ein zum Nachholen verpasster Filme wie auch zum Wiederentdecken grosser Klassiker», wie man auf der Seite liest. Aber Klassiker und Arthouse gibt es auch bei cinefile.ch und leKino.ch. «Den Nischenplayern tut es nicht gut, wenn drei, vier, fünf von ihnen mehr oder weniger dasselbe tun. Man würde besser seine Kräfte bündeln und gemeinsam versuchen, den Markt zu beackern, der sowieso nur etwa 20 bis 25 Prozent des Publikums interessiert», sagt Andreas Furler. «Auch das Nischenpublikum will seine Lieblinge nicht an fünf verschiedenen Orten suchen.»
Synergien zu nützen, würde sich schon aus finanziellen Gründen lohnen: «Eine gute Streaming-Plattform aufzubauen, ist kompliziert und sehr teuer», weiss Andreas Furler. Die Anfangsinvestitionen in die Technik sind hoch, weil das Angebot auf jedem mobilen Gerät und auf verschiedenen Browsern laufen muss. «Einen Film hochladen und abspielen ist einfach. Aber wenn man optionale Sprachfassungen und Untertitel auf die Bildschirme bringen will, wird es schwieriger», sagt er. Es muss alles so gut laufen, wie man es sich von Netflix gewöhnt ist. Der Service entscheidet darüber, ob man auf einer Seite bleibt. Wenn man es schaffe, Filme und Bonusmaterial übersichtlich und leicht verständlich an die Leute zu bringen, so sei er sicher, dass sich der Mehraufwand auszahle, sagt Furler.
Man muss unentbehrlich sein
Mit dem teuren Aufbau allein ist es nicht getan, denn Inhalte, die nur online existieren, versinken in den Weiten des Web. Wer Schweizer Filmen mehr Visibilität geben will, muss zuerst selber dafür sorgen, überhaupt wahrgenommen zu werden. Um sich hervorzuheben, braucht man ein starkes Profil, ein Alleinstellungsmerkmal, so wie Quibi, der Dienst für Kurzvideos und Nachrichten von Meg Whitman und Jeffrey Katzenberg (siehe S. 55).
Wer sich nicht über ein besonderes Angebot unentbehrlich macht, muss sich entweder mit einem kleinen Publikum begnügen oder enormen Werbeaufwand betreiben. «Ein ganz wichtiger Teil der Umsetzung wird sein, wie wir auf unsere Plattform aufmerksam machen wollen», sagt Sven Wälti. «Denkbar sind verschiedene Möglichkeiten wie beispielsweise Hinweise auf die Plattform bei linearen Ausstrahlungen. Vielleicht wird das Logo unserer App auf dem Bildschirm erscheinen, wenn die Leute zu Hause ihren Samsung-Fernseher einschalten. Im Moment sind wir mit unseren Produktionen bei SwisscomTV relativ prominent platziert. Ob das so bleibt, wird Verhandlungssache sein.»
Das Kino ist bis heute der beste Ort, um einen Film bekannt zu machen, weil es eine eingespielte Vermarktungsmaschinerie gibt. Weil die Kinoprogramme so überfüllt sind, dass ein Grossteil der Filme schnell wieder verschwindet, geben uns die Plattformen wenigstens die Möglichkeit, Verpasstes nachzuholen. Sofern man mitbekommt, wann, für wie lange und auf welcher der vielen Plattformen der gewünschte Film gezeigt wird.
Erschienen am 7.7.2019 auf nzzas.ch
(Illustration: Michael Pleesz)