Keusche Bestien im Märchen-Afrika
Im fotorealistischen Remake sind die Helden entmannt, statt Antilopen gibt’s Käfer zu essen. Aber Disneys Bemühen um politische Korrektheit ist Heuchelei. Die rassistischen Klischees blieben erhalten.
Die Neuverfilmung von «The Lion King» ist überflüssig, aber interessant. Sie ist überflüssig, weil sie nichts bietet, das über die Trickfilmvorlage von 1994 hinausgehen würde. Sie ist interessant, weil die Neuversion einem exemplarisch das Wesen des derzeitigen amerikanischen Mainstreamkinos vor Augen führt.
Dieses zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: Die Filme haben Überlänge; visuelles Spektakel und Action sind wichtiger als der Inhalt; man gibt sich unpolitisch; man setzt auf Fortsetzungen und Recycling von bewährten Stoffen, die pseudomodernisiert werden, aber trotzdem werden überwunden geglaubte Klischees weiter transportiert.
Es war in «Aladdin» so, und so ist es jetzt auch in «The Lion King». Regisseur Jon Favreau macht, wie 2006 schon mit dem «Dschungelbuch», aus dem herzigen Trickfilm von damals ein furchterregendes und lautes Actionspektakel, bestehend aus computergenerierten Bildern (CGI), die man kaum von realen Naturaufnahmen unterscheiden kann.
Zu viel Natur ist tabu
Wenn Tiere fotorealistisch aussehen, dann demonstriert man damit in erster Linie, wie toll die CGI-Technik mittlerweile ist. Der Geschichte dient diese «National Geographic»-Optik nicht, im Gegenteil. Der dokumentarisch anmutende Realismus kollidiert mit dem märchenhaften Inhalt. Und das hat mehr oder weniger absurde Konsequenzen.
Erstens: Weil die Schnauzen von Simba, Nala und den Hyänen und erst recht der Schnabel von Zazu so echt aussehen, müssen sie verhältnismässig unbeweglich bleiben. Im Gegensatz zu den Trickfilmfiguren haben die echt aussehenden Tiere kaum eine Mimik und damit kaum Charakter. Da fällt es schwer, Empathie zu entwickeln.
Zweitens: Weil all die männlichen Hauptfiguren als Tiere gezwungenermassen nackt sind, aber Nacktheit, besonders die männliche, das wohl grösste Tabu im amerikanischen Mainstreamkino ist, wurden Simba, dessen Vater Mufasa, der böse Onkel Scar und die männliche Gefolgschaft aus der Hyänen-Armee ihrer Geschlechtsteile entledigt.
Man will keine Kinder traumatisieren – tragen deren Haustiere Hosen? – oder vielmehr keine überempfindlichen Erwachsenen gegen sich aufbringen. Diese digitale Kastration macht den am Ende besungenen «Circle of Life» auf unfreiwillig komische Weise zum noch grösseren Wunder als jenem, als das er so schon gefeiert wird.
Drittens: Die Tiere mögen zwar familienfilmtauglich züchtig aussehen, aber trotzdem sind es Raubtiere, und diese töten, um zu überleben. Aber nur bei «National Geographic». Als Simba nach dem Tod seines Vaters von Scar aus seiner Heimat vertrieben wird und in einem paradiesisch schönen Flecken irgendwo in diesem Märchenafrika neue Freunde findet, lernt der fleischfressende Held, sich von Käfern und Maden zu ernähren. Wenn Simba sich so verhalten würde wie der Löwe, nach dem er aussieht, würden Pumbaa und Timon zur Beute und nicht zu seinen Freunden.
Natürlich wird auch in «The Lion King» gekämpft. Die 30 zusätzlichen Minuten, die das Remake dauert, rühren vor allem von zu langen Actionszenen her. Aber in diesen Kämpfen fliesst kein Tropfen Blut. Die Tiere gehen mit vollem Klauen- und Reisszahn-Einsatz aufeinander los, aber danach hat niemand auch nur einen Kratzer. Wo der böse Scar seine Narbe wohl herhat? Als Simbas Vater zu Tode stürzt, sieht er so unversehrt aus, als ob er sich bloss für ein Nickerchen hingelegt hätte.
Gewalt ist für Disney-Remakes kein Tabu, sondern offenbar eine Notwendigkeit, weil das Publikum sich in den zahllosen Superheldenfilmen an ausführliche Kampfszenen gewöhnt hat. Auch dort fliesst kaum Blut. Wenn man so tut, als ob Gewalt keine Folgen hätte, was lehrt man seine Kinder damit?
Disney handelt verantwortungslos
Das grösste Problem von Disneys Recyclingmaschine ist die Pseudomodernisierung der Stoffe. In «Aladdin» durfte Jasmin davon singen, sich den Mund nicht verbieten zu lassen, aber neben den männlichen Figuren hat sie trotzdem nur sehr wenig zu sagen. Ihr Lied ist ein falsches Bekenntnis zur Forderung nach stärkeren Frauenrollen.
In «The Lion King» lässt Favreau jetzt vorwiegend afroamerikanische Schauspielerinnen und Schauspieler wie Donald Glover, Beyoncé und Chiwetel Ejiofor die Rollen sprechen, um dem Vorwurf des Rassismus zu entgehen. Aber diese Versuche, politisch korrekt zu sein, sind nichts als Heuchelei.
Das Remake bleibt inhaltlich an denselben rassistischen Klischees hängen, die am Trickfilm damals schon kritisiert worden sind: Die bösen Tiere tragen ein dunkleres Fell als die guten. Die Stimmen der Helden klingen weisser als die ihrer Feinde. Der weise Affe Rafiki (John Kani), der eine Art naturreligiös bedingte telepathische Verbindung zu Simba hat, spricht ein stark dialektal gefärbtes Englisch. Die Inszenierung des Remakes ist, wie bereits im Original, Ausdruck einer kolonialistischen Sicht auf ein tribalistisches Phantasie-Afrika, geprägt von mystischer Naturverbundenheit. Es ist schwierig, darin keinen Zynismus zu sehen.
Die afroamerikanischen Stimmen sind ein Pseudobekenntnis zur Forderung nach mehr Diversität. Dass Disney es mit seinen Remakes nicht fertigbringt, überholte Rassen- und Geschlechterklischees zu überwinden, zeugt von Feigheit. Der Konzern ist einer der mächtigsten Produzenten von Bildern, die ins kollektive Gedächtnis eingehen. Die damit einhergehende Verantwortung nimmt er nicht wahr.
Der Artikel ist am 20. Juli 2019 in der «NZZ am Sonntag» erschienen.