Kino: Es wird ein Gemetzel geben

Seit März 2020 werden Filmstarts laufend verschoben, auch Schweizer Produktionen wie «Stürm». Wenn die Kinos wieder aufgehen, werden ausländische Grossproduktionen das Programm dominieren. Warum also bringt man hiesige Filme nicht online heraus? Das Bedürfnis beim Publikum wäre vorhanden.

«Stürm: Bis wir tot sind oder frei» kann nicht raus. Im Frühling 2020 war der Spielfilm über den «Ausbrecherkönig» Walter Stürm fertig. Das aufwendig produzierte Drama von Oliver Rihs hätte im Frühsommer an einem A-Festival Premiere feiern sollen, für Herbst 2020 wäre der Schweizer Kinostart geplant gewesen.

 «Mit einer grossen Streamingplattform», wie Produzent Ivan Madeo von Contrast Film es ausdrückt, war man auf bestem Weg, den Film anschliessend in den Katalog aufzunehmen.

Aber dann kam Corona. Seither dreht der Bundesrat pandemische Pirouetten in der Kulturpolitik. Der Kinostart von «Stürm» ist seit 2020 fünfmal verschoben worden, zuletzt auf November 2021. Man hofft, wie schon vergangenes Jahr, dass sich die Pandemie im Sommer verflüchtigen wird.

«Dass sich die Pläne der Behörden für Kinos ständig ändern, ist angesichts der epidemiologischen Lage zwar nachvollziehbar. Dennoch zerrt das an den Nerven und ist sehr teuer», sagt Madeo. «Alle vier Wochen passen wir unsere Strategie an.» Ständig gleise man neue Werbemassnahmen auf, «alles kostet, kommt aber vielleicht gar nie zum Zug».

Ein Verleiher meinte im Gespräch, am liebsten wäre ihm ein Beschluss des Bundesrats, dass die Kinos bis September zu blieben, egal, was kommt. So hätte man mehr Planungssicherheit und auch Möglichkeiten, sich in der Zwischenzeit richtig auf einen Neustart vorzubereiten.

Die Sommermonate sind jeweils auch ohne Pandemie schwierig: Das schöne Wetter lockt in die Badi, nicht in den Kinosaal. Dieses Jahr kommen noch die Olympischen Spiele und die Fussball-Europameisterschaft als Konkurrenz hinzu.

Schweizer Filme sind beliebt

Wo die Lage seit über einem Jahr so unsicher ist, fragt man sich: Warum bringt man Schweizer Filme nicht erst einmal online heraus? Wäre das nicht die bessere Lösung, statt weiterhin auf die Wiedereröffnung zu warten?

Einiges würde dafür sprechen. Erstens: Seit März 2020 stauen sich die Filme. Wir warten auf den neuen «Bond», «Dune», «Black Widow» oder «Top Gun: Maverick» – gegen solche Grossproduktionen haben Schweizer Filme erfahrungsgemäss auch ohne Pandemie nur geringe Chancen.

Zweitens: Das Publikum wird sich beeilen müssen, um den einen Film zu sehen, bevor er im überfüllten Programm dem nächsten Platz machen muss. Es werde ein Gemetzel geben, wenn die Kinos öffnen, sagt ein Verleiher.

Drittens: Wer würde «Stürm» nicht streamen, wenn er heute anlaufen würde? Und wie viele würden sich den Film noch Wochen später auf einer der hiesigen Plattformen anschauen?

Dank Video-on-Demand (VoD) könnten Schweizer Filme deutlich grössere Chancen auf eine nennenswerte Publikumszahl haben. Zumal einheimische Produktionen online sehr gut laufen. Laut Procinema gab es 2020 insgesamt 33900 VoD-Eintritte, davon waren 9028 Schweizer Filme. Für Cinefile.ch gibt Programmleiter Andreas Furler an, dass sieben ihrer Top 20 im letzten Jahr Schweizer Filme gewesen seien. Zum Vergleich: Im Kino waren es 2019 gerade einmal zwei.

Die «Woche der Nominierten», wo das Publikum die Anwärter auf den Schweizer Filmpreis dieses Jahr streamen konnte, stand den Vorführungen im Kino in den vorangehenden Jahren nicht nach, und das, obwohl das sonst übliche Rahmenprogramm fehlte.

«Das Neue Evangelium» von Milo Rau wurde in der Deutschschweiz und der Romandie seit dem Start vor Ostern an vier Tagen 2272-mal gestreamt. Sein letzter Film, «Das Kongo Tribunal» (2017), schaffte während mehrerer Wochen im Kino 6026 Eintritte. Und auch im Fernsehen sind hiesige Produktionen populär: «Der Unschuldige» von Simon Jaquemet wurde auf Arte von 150 000 Zuschauern gesehen. Im Kino schaffte er 2269 Eintritte.

Chaos und Verwirrung in der Branche

Wenn das Publikum das heimische Schaffen so sehr schätzt, warum dann das Zögern? Ivo Kummer, Filmchef des Bundesamts für Kultur, betont, dass jede Produktion frei entscheiden könne, mit einem Film direkt als VoD herauszugehen.

Ganz so einfach sei es aber nicht, sagt Ivan Madeo. «Selbst wenn man das wollte, dürfte man das nicht in jedem Fall.» Das Problem sei die Förderstruktur bei Koproduktionen mit anderen Ländern: In Deutschland oder Italien sei man mit einem Kinofilm, der als solcher von einer Filmförderstelle finanziert worden sei, dazu verpflichtet, dass der Film zuerst im Kino starte.

Aber da, wo VoD-Starts möglich wären, seien eben auch die Verleiher gefragt, meint Kummer. Sie könnten Förderung für Online-Starts beantragen, nur mache das niemand. Man habe die Neuerungen der Branche vorgestellt, «aber in den Köpfen der Leute sind diese noch nicht angekommen».

Kummer vermisst den Mut, neue Wege zu gehen. Schon vor drei Jahren habe man gesehen, dass Kinobesuche rückläufig seien. «Trotzdem hat sich aufseiten der Kinos wenig getan. Jetzt kommt die Einsicht, dass es weiter gehen muss, als Eintritte und Popcorn zu verkaufen», sagt er.

Der Filmchef fordert die Branche auf, zu experimentieren. Das ist löblich, aber: Mit VoD verdient man noch nicht ansatzweise so viel wie mit der Leinwand. Darum ist der Kinostart nach wie vor das oberste Ziel, selbst wenn dieser nicht mehr zeitgemäss ist.

Folglich möchte auch Ivan Madeo seinen «Stürm» nicht als Stream vor einem Kinostart herausbringen. Obwohl er um die Konkurrenz von zahllosen ausländischen Filmen weiss, hofft er – und nicht nur er – darauf, dass sein Werk an der Kinokasse ein Erfolg wird.

 

Zuerst erschienen am 8.4.2021 in der «NZZ am Sonntag». Co-Autor: Andreas Scheiner. (Bild: Ascot Elite)

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