Kino gegen die Angst

Die Berlinale ist das politischste unter den grossen Filmfestivals in Europa. Besonders in diesem Jahr. Nur der Jurypräsident weiss das nicht.

Wie er damals bei der zweiten Debatte hinter Hillary Clinton herumschlich, so lauert er jetzt an der 67. Berlinale hinter jedem Vorhang, in jeder Ansprache, selbst wenn sein Name nicht genannt wird. Anke Engelke fragte bei der Eröffnungsfeier am Donnerstagabend: «Sind Sie hier um des Festivals willen oder weil Sie jemand nicht mehr in Ihr Land rein lässt?» Die Kulturstaatsministerin Monika Grütters sagte wenig später in ihrer Rede: «Alternative Fakten und bizarre Auftritte waren bis jetzt dem Kino vorbehalten.» Für die Präsidentin des Filmvertriebs Radiant Films International aus Los Angeles ist der Mann, dessen Namen niemand nennen will, ein reales Problem. Dem «Hollywood Reporter» sagte sie: «Einer unserer Filme hier wurde von einem syrischen Regisseur gedreht. Er will nach Berlin kommen. Aber ich weiss nicht, ob er danach wieder zurück in die USA reisen kann. Es ist Wahnsinn.»
 
Programm als Protest
 
Dieter Kosslick, der Direktor der Berlinale, sagte vor der Eröffnung seines Festivals, er wolle jetzt nicht zehn Tage lang über Trump diskutieren müssen. «Unser Programm ist Protest genug.» Zu diesem Programm gehört beispielsweise das Drama «Colo» der Portugiesin Teresa Villaverde, das von den fatalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf eine Familie handelt. «Viceroy’s House» von Gurinder Chadha und «Joaquim» von Marcelo Gomez befassen sich mit den Folgen des Kolonialismus in Indien und Brasilien. Der Oscar-nominierte Dokumentarfilm «I Am Not Your Negro» der Haitianers Raoul Peck erzählt die Geschichte von Afroamerikanern aus ihrer eigenen Sicht. «El bar» von Alex de la Iglesia handelt von der Angst vor Terror. In «The Other Side of Hope» von Aki Kaurismäki tun sich ein untergetauchter Flüchtling aus Syrien und ein ehemaliger Handelsvertreter für Krawatten zusammen. Das sind Beispiele aus einer langen Reihe von Filmen, die sich als Protest gegen diesen Mann verstehen lassen, der mit seinen Tweets und Dekreten die Weltöffentlichkeit in Angst und Aufregung versetzt.
 
Die Berlinale ist das politischste unter den grossen Filmfestivals in Europa. Das wissen alle ausser dem diesjährigen Jurypräsidenten Paul Verhoeven. Als ein Journalist ihn fragte, ob er um den Ruf des Filmfestivals wisse, sagte Verhoeven: «Tatsächlich? Ich bin der Meinung, dass man Kino und Politik nicht vermischen sollte.» Es drängt sich also die Frage auf, welches die Rolle des Kinos in Zeiten des wieder auflebenden Nationalismus und Populismus sein kann oder muss.
Er kann zum Beispiel für Eskapismus sorgen. Anke Engelke sagte es bei der Eröffnung so: «Wenn die Zeiten düster sind, wollen wir ins Kino, um all dem zu entfliehen – so ein bisschen ‹La La Land›, einfach mal abschalten.» Nach Trumps Wahl konnte man im «Filmmaker Magazine» lesen, dass man es als Problem betrachten müsse, wenn während der kommenden vier Jahre jemand zufrieden und in seinen Ansichten und Wertvorstellungen bestärkt aus dem Kino kommt, weil der Film zwar unterhaltsam war, aber sonst nichts.
 
Das Kino kann aber auch, ohne der zurzeit herrschenden Hysterie zu verfallen, abbilden, was ist. Dokumentarfilme ebenso wie Spielfilme können uns fremde Wirklichkeiten zugänglich machen. Wenn ein Film es schafft, unseren Blick auf ein scheinbar vertrautes Thema zu verändern, bekommt er automatisch eine politische Dimension. Das allein macht ihn aber noch nicht zum Kunstwerk. Die Berlinale wurde schon dafür kritisiert, zu sehr auf die politische Botschaft ihrer Filme zu setzen und darob deren ästhetische Qualität zu vergessen.
 
Der Eröffnungsfilm «Django» von Etienne Comar war so ein Film. Der Erstling des französischen Regisseurs erzählt von einer kurzen Zeitspanne aus dem Leben von Django Reinhardt, dem Mann, der so virtuos Gitarre spielte wie kaum jemand sonst. Weil Django (Reda Kateb), den man den Begründer des europäischen Jazz nennt, den Sinti angehört, einem Volk, das die Nazis ausrotten wollen, flieht er aus dem besetzten Paris in die Schweiz. Seine Geliebte Louise (Cécile de France) drängt ihn dazu. «Django» hätte ein Film sein können über die Frage, wie Künstler auf Totalitarismus reagieren sollen oder können. Stattdessen ist es ein Stück harmloser Unterhaltung, das an Klischees klebt.
 
Kreative Überhöhung
 
Comar inszeniert Django und seine fahrende Verwandtschaft als lustige Musikanten, die sich am Lagerfeuer treffen oder in der Kneipe für Stimmung sorgen. Louise, die schöne und emanzipierte Frau aus der Résistance, dient allein der Dramaturgie, Comar hat sie erfunden. Dann, wenn man Django an Konzerten spielen sieht, spürt man zwar etwas von der Leidenschaft, die der echte Reinhardt für seine Kunst gehabt haben muss. Aber abgesehen davon hat dieser Verfolgte als Mensch so wenig Tiefe, dass man von den am Ende eingeblendeten Fotos von einigen der 250 000 tatsächlich ermordeten Sinti und Roma peinlich berührt ist.
 
Ein Film ist dann ein Kunstwerk, wenn er sublimiert, also einem konkreten Ereignis oder Thema durch kreative Überhöhung eine universelle Bedeutung zu verleihen vermag. So wie «The Great Dictator» von Charlie Chaplin. Pablo Picasso nannte die Kunst «eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt». Während Verhoeven glaubt, dass die «Kunst, wenn sie politisch wird, sich einer Botschaft fügt» – was Propaganda wäre –, sehen andere Jurymitglieder das anders. Sie betrachten das Kino als Mittel der Veränderung.

 

Erschienen am 12. Februar in der «NZZ am Sonntag».