Kreml-Gegner und Regisseur: «Ich habe keine Angst. Das ist mein Problem»
Kirill Serebrennikow darf Russland nicht verlassen. Sein neuer Film «Petrov's Flu», einer der interessantesten Beiträge im internationalen Wettbewerb des Filmfestivals in Cannes, entstand nach dem Hausarrest.
Einer fehlte in Cannes: der Regisseur Kirill Serebrennikow. Sein Film «Petrov’s Flu» feierte Premiere, aber sein Erschaffer darf Russland bis im Juni 2023 nicht verlassen. So lange dauert seine Bewährungsstrafe noch, die auf einen zweijährigen Hausarrest folgte, nachdem er 2017 wegen angeblicher Veruntreuung von staatlichen Fördergeldern angeklagt worden war.
Die Anklage, gegen die international protestiert wurde, gilt als Farce, als Machtdemonstration des Kremls gegen einen Unbequemen und als eine Warnung an Kulturschaffende im Land, die immer enger werdenden Grenzen des Sag- und Zeigbaren ja zu respektieren. Nach «Leto», Serebrennikows Hommage an den russischen Rock-Pionier Viktor Tsoi, ist «Petrov’s Flu» sein zweiter Film, der in seiner Abwesenheit in Cannes anläuft.
Es ist eine die Sinne überwältigende Komödie mit dramatischem Unterton über einen Mann, Petrov, der sich am Silvesterabend hustend und fiebernd durch Jekaterinburg nach Hause zu seiner Familie durchschlägt. Er gerät in eine Party im Leichenwagen oder hilft einem homosexuellen Autor beim Selbstmord.
Wie der Protagonist weiss man selber nie so genau, was real ist und was nicht. Auch Petrovs Frau und sein Sohn sind infiziert mit der Grippe. Der Sohn lässt sich von einem Ufo retten, die Frau wird gewalttätig, während Petrov sich in seine Kindheit zurückdeliriert.
Auch der Film selbst fühlt sich an wie ein Fiebertraum. Es geschieht so viel, dass man unmöglich alles sieht, was es zu sehen gibt. Dafür wirken die Bilder noch lange nach. «Petrov’s Flu», eine Verfilmung des Romans «The Petrovs in and around the Flu» von Alexei Salnikow, gehörte zu den originellsten und interessantesten Beiträgen im internationalen Wettbewerb. Im Zoom-Interview gibt Serebrennikow Auskunft über seinen Film.
NZZ am Sonntag: Herr Serebrennikow, «Petrov’s Flu» ist ein Feuerwerk. Als ob Sie damit alles losgeworden wären, was sich seit 2017 in Ihnen angestaut hat. Ist das so?
Kirill Serebrennikow: Ich schrieb das Drehbuch im Hausarrest und hatte Zeit, etwas Eigenes aus diesem Roman zu machen, den ich faszinierend und aufregend finde. Es war ein Trigger für mich, um in meine Kindheit und Jugend zurückzuschauen. Es ist eine Auswirkung der Selbstisolation, seinen Ängsten und Frustrationen so nahe zu kommen. Das hat das Skript beeinflusst. Es ist ein sehr persönlicher Film, nicht nur eine Romanadaption.
Alles, was provokativ sein könnte, findet in der Phantasie der Figuren statt.
Ja, die Phantasie ist frei.
Als Sie 2016 Ihren Film «The Student» in Cannes noch selbst vorstellten, sagten Sie: «Wir haben diesen Film ohne Angst inszeniert.» Wie ist es heute mit der Angst?
Ich habe keine Angst, das ist mein Problem! Es wäre einfacher für mich, wenn ich Angst hätte, wenn ich mir selbst Grenzen setzen würde. Aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass Künstler – oder solche, die so tun als ob – als Erstes die Grenzzäune im eigenen Kopf einreissen müssen. In der Kunst ist alles möglich.
Im Westen vielleicht, aber für Sie ist die Kunst gefährlich, wie wir gesehen haben.
Kunst ist grundsätzlich gefährlich.
Wirklich?
Ja. Wenn man sich die Filmliste von jemandem wie Pier Paolo Pasolini anschaut, sieht man, dass die Liste der Gerichtsverfahren etwa gleich lang ist. Kunst ist gefährlich, weil jemand gegen das sein kann, was du in einem Film zeigst oder in einem Buch schreibst. Ein künstlerisches Statement ist ein öffentliches Statement. Es ist, als ob du nackt auf einem Platz stehen würdest. Die Leute wissen alles über dich, wissen, was du denkst. – Sofern du ehrlich bist in deinem Werk und es nicht bloss Dekoration ist.
Kirill Serebrennikow behauptet zwar, die fehlende Angst sei sein Problem. Aber seine Antworten im Gespräch legen andere Schlüsse nahe. Einen Film wie «The Student», ein satirischer Angriff auf die Intoleranz der orthodoxen Kirche, würde er heute wohl nicht mehr drehen.
Heute ist er ein Feind des Kremls, vor gut zehn Jahren, als es in Russland unter Dmitri Medwedew für kurze Zeit etwas wie Kunstfreiheit gab, war er der Vorzeige-Avantgardist. Serebrennikow war aufgefallen mit seinem «Platform»-Projekt, das modernen Tanz, Theater und Musik im Land populärer machen sollte. Die Inszenierung von «Plastilin», einem skandalösen Stück über einen geschändeten Buben, brachte den internationalen Durchbruch.
2012 wurde er zum Leiter des Gogol-Theaters in Moskau ernannt – obwohl er sich zuvor nicht zurückgehalten hatte mit Kritik an Russland. Ob es um Krieg, Wahlbetrug, die zunehmende Verfolgung der LGBTQ-Community oder um die Verhaftung der Mitglieder der Band Pussy Riot ging.
Serebrennikow verwandelte das Gogol-Theater, das sehr konservativ war und schlecht lief, in ein multimediales und beliebtes Kulturzentrum. Man zeigte Filme, es gab Lesungen und Konzerte, und neben den traditionellen Theaterstücken liefen eigene Produktionen, wie «Idioten» nach dem Film von Lars von Trier.
Ab 2012 wurde die Beziehung zwischen Staat und Kulturszene dann aber zunehmend prekär. Putin war wieder da. Kulturschaffende bekamen den zunehmenden Autoritarismus, die Macht der orthodoxen Kirche und die Einschränkung der Redefreiheit schon zu spüren, bevor Putin mit Wladimir Medinski einen neuen Kulturminister einsetzte, einen Nationalisten, der sein Ministerium in eine streng konservative Richtung trieb.
Serebrennikows geplanter Biografiefilm über Peter Tschaikowsky wurde gestoppt, weil er die Homosexualität des Komponisten thematisieren wollte. Statt mit Avantgardetheater zu kokettieren, verlangte die Regierung jetzt russische Werte.
In älteren Interviews gab sich Kirill Serebrennikow kämpferischer. Er ermahnte Kolleginnen und Kollegen, sich nicht einschüchtern zu lassen und den Mut in der Kunst und im Leben nicht zu verlieren. Weil es in Russland kaum privat finanzierte Kultur gibt, bleibt den Kreativen nur die Selbstzensur. Serebrennikow übt diese auch im Gespräch.
Sie sind zu einem der wichtigsten Künstler Russlands geworden...
Das würde ich nie sagen! Das sagen vielleicht andere über mich.
...ich meinte, weil Sie es wagen, zu widersprechen, zu provozieren.
Ich möchte lieber nichts mit Politik zu tun haben. Politik ist etwas ganz anderes als Kunst. Dreckig, dramatisch und gefährlich. Dafür fehlt mir der Mut. Ich beschränke mich aufs Filme-, Theater- und Opernmachen. Natürlich habe ich meine Ansichten, aber in die Politik mische ich mich nicht ein.
Aber Ihre Arbeiten sind politisch. Warum sonst der Gerichtsprozess gegen Sie?
Ich kritisiere Dummheit, existenziellen Wahnsinn, die Angst von Leuten, frei sein zu wollen. Ich kritisiere auch mich. Ich spiele dieses Spiel «Wir gegen die» nicht mit. Kunst oder Film können wichtige Statements machen. Aber Politik ist kompliziert, nicht so simpel, wie wir es gerne hätten.
Serebrennikow hat die Politik mit seiner Arbeit immer kritisiert. Selbst wenn er keine Grenzen überschreitet – zumindest aus westlicher Sicht –, so lotet er sie doch aus. Im Musikfilm «Leto» etwa mokierte er sich über die vergeblichen Verbote von westlicher Rockmusik in der Sowjetunion.
Weil der Kulturminister Medinski befand, sein Ballett «Nurejew» über den Tänzer Rudolf Nurejew propagiere «nichttraditionelle Sexualbeziehungen», wurde die Premiere 2017 im letzten Moment gestrichen. Es gebe zu viel Nacktheit, zu viel Homoerotik. Das vertrage sich nicht mit den russischen Werten.
Der italienische Autor Antonio Gramsci sagte: «Die alten Zeiten sterben, die neuen tun sich schwer, geboren zu werden. Jetzt ist die Zeit für Monster.» Hat er recht?
Das ist ein schönes Zitat. Ich mag es, weil «Petrov’s Flu» zwischen zwei Jahren spielt. Petrov ist ein Mann, der sich zwischen den Zeiten verloren hat.
Die Monster leben in den Figuren, besonders Petrovs Frau.
Monster erscheinen plötzlich und aus den dunkelsten Ecken. Selbst in der eigenen Wohnung.
Passt dieses Zitat auch zu Russland?
Es passt zum Leben, zu unserer Existenz. Ich habe in Zürich während meines Hausarrests die Mozart-Oper «Così fan tutte» inszeniert. Da habe ich gesehen, dass selbst in einem sehr ruhigen und reichen Land viele Monster lauern. Ihre Anzahl hängt nicht von der Lebensqualität ab, sondern davon, was in den Köpfen der Leute passiert. Ob sie ihr Leben langweilig finden oder nicht. Ob es voller Liebe oder Hass ist.
Im Westen beschränkt sich Kunst oft genug entweder auf Selbstbespiegelung oder Selbstvermarktung. Hier muss niemand mutig sein.
Für mich ist es keine Frage des Mutes, sondern eine nach den Prinzipien, die man hat, wenn man Filme dreht oder Bücher schreibt. Es gibt sehr viele sehr gute dekorative Künstler, die sehr gute dekorative Kunst machen. Das ist nicht gut oder schlecht. Jeder Künstler hat seine eigene Geschichte. Jeder wählt seine eigene Art des Ausdrucks.
Zurzeit arbeitet Kirill Serebrennikow an einer Serie über den russischen Regisseur Andrei Tarkowski. Er richtet seinen Blick jetzt zurück, ob in die eigene Kindheit wie in «Petrov’s Flu» oder auf das Leben des 1986 verstorbenen Berufskollegen. Der ehemalige Vorzeige-Avantgardist des Kremls bekommt es doch mit der Angst zu tun.
Zuerst erschienen am 17.7.2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Andreas Rentz/ Pool / EPA)