LEEOOOO!!!
Eine kurze, aber vollständige Besprechung aller DiCaprio-Filme.
In This Boy’s Life spielt Leonardo DiCaprio 1993 seine erste grosse Rolle. Den Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der sich gegen seinen gewalttätigen Stiefvater durchsetzt, weil er aufs College will. Er ist 19, sieht aus wie 15 und sticht Robert De Niro aus. Der unbekannte Junge, der fast platzt vor Spielfreude, lässt dessen Repertoire eingeschränkt und routiniert aussehen. Eine Oscarnominierung erhält DiCaprio für seinen nächsten Film: In What’s Eating Gilbert Grape (1993) spielte er den geistig behinderten Arnie Grape so überzeugend, dass jeder, der noch nie von ihm gehört hatte, denken musste, Lasse Hallström habe für den Jungen mit den dreckigen Fingernägeln und dem stets klebrigen Gesicht gar keinen Schauspieler gecastet.
Leonardo DiCaprio ist, wie Benedict Cumberbatch oder Tilda Swinton, eines der Talente, die sehr gute Drehbücher und exzellente Mitspieler brauchen, damit ein Film funktioniert. Sharon Stone, damals populär dank des Erotikthrillers «Basic Instinct», ist in The Quick and the Dead (1995) verloren neben ihm – obwohl sie erfolgreich Rache an einer ganzen Westernstadt nimmt, während DiCaprios Figur in einem Duell totgeschossen wird. In The Basketball Diaries spielt DiCaprio im gleichen Jahr einen talentierten Basketballer und Poeten, der im New York der 80er-Jahre dem Heroin verfällt. DiCaprio, dünn und zerbrechlich, aber innerlich vibrierend, erinnert mit seinen umschatteten Augen und dem dumpfen, nach innen gerichteten Blick an den jungen David Bowie in seiner schlimmsten Kokainzeit. Mark Wahlberg spielt seinen Junkie mit hängenden Augenlidern und halb offenem Mund und wirkt unfreiwillig komisch neben DiCaprio. In Total Eclipse von Agnieszka Holland, seinem dritten Film 1995, ist er zum zweitenmal ein Poet: der französische Dichter Arthur Rimbaud, der unbekümmerte, wilde Geliebte Paul Verlaines –und wieder ein Getriebener, dem das eigene Können zunehmend zum Verhängnis wird. In Marvin’s Room von Jerry Zaks gibt DiCaprio 1996 ein letztes Mal den Teenager aus einer Problemfamilie.
Dann kommt Baz Luhrmann und lässt ihn die romantischste Figur überhaupt spielen: William Shakespeares Romeo. Luhrmann macht in Romeo + Juliet das 400 Jahre alte Stück zu einer Orgie aus Farben und Sound, gibt ihm Sex-Appeal, und dies, obwohl die Darsteller in original Shakespeare-Versen sprechen. Aber DiCaprio und Claire Danes, die Julia, gehen mit so viel Leichtigkeit mit dieser Sprache um, dass sie nicht aufgesetzt, sondern notwendig scheint, damit sich die Liebe überhaupt entwickeln kann.
Wenn Baz Luhrmann ihn vom Jungen zum jungen Mann machte, dann machte ihn James Cameron mit Titanic (1997) zum Superstar. «I’m the king of the world!», ruft er als Jack über das Meer hinaus, am Bug des Riesendampfers stehend. Er ist es. – Und spielt einen der grössten Könige in seinem nächsten Film: Louis XIV, einen Fiesling, der seinen Zwillingsbruder – ebenfalls von DiCaprio gespielt – in einem Verlies gefangen hält. The Man in the Iron Mask (1998) von Randall Wallace verzeichnete vermutlich nur darum Eintritte, weil der Name des Titanic-Stars auf den Plakaten stand. Wie ist es, ein Star zu sein? Das möchte Woody Allens neurotische Hauptfigur Lee (Kenneth Branagh) in der felliniesken Komödie Celebrity (1998) wissen. Die Story mäandert ähnlich orientierungslos dahin, wie Lee sich fühlt, als auf einmal ein tobender DiCaprio in den Film platzt. Er zerlegt ein Hotelzimmer, schreit das Model in seinem Bett an: «I fuckin’ love you! Don’t you fuckin’ walk away from me, bitch!», um wenig später draussen Autogramme zu geben, sich zu einem Boxkampf fliegen zu lassen, ins Casino zu gehen und in einem anderen Hotel Gruppensex zu haben.
In The Beach (2000) von Danny Boyle spielt er zum dritten Mal einen unsympathischen Kerl: den ebenso naiven wie selbstsüchtigen Backpacker Richard, der in Thailand eine Karte zu einem vermeintlichen Paradies findet, das sich aber als von Hippies bevölkerte Hölle entpuppt. DiCaprio spielt genüsslich, Tilda Swinton als Königin der Kommune hält mit, aber der Rest der Figuren ist hohl und künstlich. Ganz anders diejenigen in Don’s Plum (2001), einem Low-Budget-Film von R.D. Robb, der kaum gescriptet, schwarz-weiss und in dokumentarisch anmutender Manier eine Runde Teenager porträtiert. Sie hängen in ihrem Stammcafé rum, rauchen, trinken, wollen cool sein. Das Highlight: einer dieser Leo-Momente. Wenn DiCaprio verstummt, sein Gesicht im Close-up gezeigt wird und man in seinen Augen sehen kann, wie sich das Spiel nach innen verlagert und darum noch stärker wird.
2002 tritt Martin Scorsese in DiCaprios Welt, Gangs of New York über die Bandenkriege im Manhattan der 1860er-Jahre ist ihr erster gemeinsamer Film. DiCaprio gibt sein Bestes an der Seite von Daniel Day-Lewis, erreicht ihn aber nicht. Im gleichen Jahr dreht er mit Steven Spielberg Catch Me If You Can, dieses reizende Räuber-und-Poli-Spiel mit Tom Hanks. Er spielt Frank Abagnale jr., der als falscher Lehrer, Pilot, Arzt oder Anwalt das FBI herausfordert. DiCaprio mit seinen zu langen, zu dünnen Gliedmassen und seinem nicht altern wollenden Jungengesicht ist brillant. Der 28-Jährige verschmilzt mit der Figur dieses frühreifen, listigen Teenagers, der, mit schelmischem Grinsen im Gesicht, zum Meisterbetrüger heranwächst.
Zwei Jahre später folgt mit The Aviator die zweite Zusammenarbeit mit Martin Scorsese. Der Biografiefilm über Howard Hughes ist episch lang und in hyperrealen Farben gehalten, die Kopfweh machen. Aber DiCaprio als exzentrischer, zwangsgestörter Flugpionier und Cate Blanchett als Katharine Hepburn waren das Kinobillett trotzdem wert. 2006 dann The Departed, wieder von Scorsese, ein lose an wahre Begebenheiten angelehnter Thriller über das organisierte Verbrechen im Boston der 1990er-Jahre. DiCaprio hat nun etwas von seinem bübischen Charme abgelegt, ist ernster und bulliger, seine Arme und Beine schlenkern weniger wild, aus seiner senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen sind zwei geworden. Der 34-Jährige wirkt zum ersten Mal erwachsen auf der Leinwand. In Blood Diamond (2006), einem lauten und einfältigen Thriller von Edward Zwick, spielt er mit gewohnter Brillanz (und schrecklichen Mèches im Haar) einen Diamantenschmuggler, der aus dem Geschäft aussteigen will, das die meisten der Bürgerkriege in Afrika finanziert hat. Der Film ist nur wegen Leo sehenswert. Wie auch Body of Lies (2008) von Ridley Scott, der den Kampf gegen den Terror zum Thema hat und dabei die Vorurteile gegen alles, was nicht westlich und christlich ist, nur weiter schürt. DiCaprio ist kein guter Actionheld. Diese Figuren sind zu eindimensional für ihn. Und seine Finger für Maschinenpistolen zu feingliedrig. Er ist am besten in Charakterrollen. In Sam Mendes’ Revolutionary Road (2008) spielen er und Kate Winslet ein Mittelklasse-Ehepaar aus den 50er-Jahren, gefangen in einer klaustrophobisch anmutenden heilen Vorstadtwelt. Das ehemalige Titanic-Paar wächst über sich hinaus. Die beiden gehen erneut unter, diesmal, weil sie sich gegenseitig ihrer Träume berauben.
Im visuell atemberaubenden, inhaltlich aber ermüdend mysteriösen Inception (2010) von Christopher Nolan sind Träume das Gebiet, auf dem DiCaprio sich als Industriespion bewegt: Er dringt in solche ein, um herauszufinden, was der Schlafende plant. Seine Figur gleicht derjenigen aus Shutter Island (2010), dem Psychothriller von Martin Scorsese. Er spielt einen Ermittler, nervös, melancholisch, der zunehmend den Boden unter den Füssen verliert. J. Edgar (2011), Clint Eastwoods schwerfälliger Biografiefilm über J. Edgar Hoover, den ersten Direktor des FBI, markiert einen Tiefpunkt, bevor dann die Filme folgen, die zu den besten gehören in DiCaprios Filmografie. In Django Unchained (2012), Quentin Tarantinos Pop-Western, der mit Skavenhaltern gleich verfährt wie «Inglourious Basterds» mit Nazis, spielt er Calvin Candie, einen eleganten, wortgewandten Grossgrundbesitzer in den Südstaaten. Candie ist ein widerlicher, selbstverliebter Typ mit gekünsteltem Wohlwollen in der Stimme und fiesem Grinsen im Gesicht. DiCaprio spielt diese arrogante, jämmerliche Figur mit ebenso viel Genuss, wie er ein Jahr später auch Jay Gatsby spielt in The Great Gatsby, seiner zweiten Zusammenarbeit mit Baz Luhrmann. Der Film ist, wie schon «Romeo + Juliet», ein eigenwilliges, schrilles Werk von bunter Opulenz, getragen von grossem Soundtrack und erstaunlich eng an den Originaltext angelehnt; damals Shakespeare, jetzt F. Scott Fitzgerald. DiCaprios Millionär, der – je nach Perspektive – ein hinterhältiger Betrüger oder ein liebeskranker Melancholiker ist, wirkt alterslos und geheimnisvoll, tragisch und komisch zugleich. Er stirbt mit einer Kugel im Herzen wie zuvor schon Candie und versinkt sterbend in seinem Swimmingpool – wie Jack, der König der Welt, damals in den eisigen Fluten des Atlantiks versunken ist.
Candie und Gatsby sind fantastisch. Aber Jordan Belfort in The Wolf of Wall Street (2013) übertrumpft sie noch. Martin Scorsese hat in seiner grandiosen Satire auf die Brokerszene der 80er-Jahre das vorläufige Maximum aus DiCaprio herausgeholt. Die Szene, in der er sich zugedröhnt über eine Treppe zurück zu seinem Auto schleppt und rollt, ist eine der lustigsten seiner Karriere. Seine auf einmal wieder zu lang wirkenden Gliedmassen lassen ihn im Stich. Er robbt und rutscht auf dem Boden herum und sieht aus wie eine querschnittsgelähmte Antilope. Seine Grimassen erinnern an die von Arnie in «What’s Eating Gilbert Grape». Sein Spiel im ganzen Film wirkt so gelöst wie damals in «This Boy’s Life» und «The Basketball Diaries». Jordan Belfort war in vielerlei Hinsicht die Vereinigung von DiCaprios bisherigen Figuren.
Kann man das toppen? Ja, mit The Revenant.
Erschienen in "Das Magazin" am 9. Januar 2016