Lili Hinstin: «Ich bin keine Quotenfrau.»

Der neuen Direktorin des Filmfestivals Locarno ist wichtiger, dass ein Film gut ist, als dass er von einer Frau gemacht ist. Aber im Programm gebe es eine sehr starke weibliche Sichtweise auf die Welt.

NZZ am Sonntag: Frau Hinstin, was wollen Sie anders machen als Ihr Vorgänger Carlo Chatrian? Welches ist Ihre Vision für das Filmfestival Locarno?

Lili Hinstin: Als künstlerische Leiterin versuche ich, dem Programm eine klare Linie zu geben, die unterschiedlichsten Angebote miteinander in einen Dialog zu bringen und das Publikum einzuladen, seine Schwerpunkte auszumachen. Unsere wichtigste Mission ist, neue Filme zu entdecken und diese dem Publikum, der Presse und der Industrie vorzustellen.

Haben die auffallend vielen Regisseurinnen im Programm mit dem «Pledge for Parity and Inclusion» des Swiss Women’s Audiovisual Network zu tun?

Nein. Wir sind drei Frauen und drei Männer im Auswahlkomitee, und ich finde, die Männer seien die militanteren. Sie sagen: «Wir müssen an die Frauen denken.» Und wir Frauen sagen: «Nein, wir wollen die besten Filme.» Ich mag diese Dialektik. Wir haben bei der Auswahl nicht auf ein Gleichgewicht geachtet.

Wie viele Filme wurden von Regisseurinnen eingereicht?

Nur etwa 30 Prozent für den Wettbewerb, für die Kurzfilme 36 Prozent. Ich bin sicher, dass bei den Langfilmen deutlich mehr Dokumentar- als Spielfilme von Frauen stammen. Ein Hinweis darauf, dass die Genderfrage mit ökonomischen Faktoren verbunden ist.

Es wird oft beklagt: je teurer die Filme, desto weniger Regisseurinnen.

Das ist so. Dabei ist das Verhältnis an den Schulen im Fach Regie heute ausgeglichen. Es ist interessant zu sehen, was mit den Regisseurinnen nach der Ausbildung geschieht, besonders im Spielfilm. Und ebenso, wie Subventionen verteilt werden. In der Filmindustrie hat das Vorurteil, dass man Frauen weniger zutraut, materielle Konsequenzen.

Haben Sie als Leiterin eine Vorbildfunktion?

Ja, und das ist grossartig. Ich kann zeigen: Ich kann etwas, und zwar ohne mir dafür untreu zu werden. Ich habe immer auf ehrliche und aufrichtige Art gearbeitet.

Sie sind keine Quotenfrau.

Nein. Und selbst wenn ich eine wäre, wäre es in Ordnung, weil ich mich kompetent fühle. Natürlich sagen manche zu mir: «Du bist nur hier, weil du eine Frau bist.» Aber was soll’s. Ich bin stolz, die künstlerische Leiterin eines grossen Festivals zu sein. Nicht nur für mich. Ich bekomme viel Feedback von Frauen aus der Filmindustrie. Sie sagen mir, wie viel ihnen meine Wahl bedeute.

Haben Sie keine Angst, härter beurteilt zu werden, wie es Frauen sehr oft passiert?

Nein. Ich bin vielmehr gespannt darauf, wie das Publikum auf unsere Auswahl reagiert, weil wir die Filme wirklich lieben.

Gibt es Hoffnung, dass die Zeiten sich ändern?

Ich merke es an mir selbst: Vor etwa 15 Jahren, bei einer Arbeit in Italien, nannten mich alle direttore. Auch ich selbst. Dass das überhaupt möglich war, lag daran, dass es damals nötig schien, sich an männliche Modelle anzupassen. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir uns mit der Art zu Denken an unsere Umgebung anpassen, ohne dass es uns wirklich bewusst wäre. Mich jetzt direttrice zu nennen, ist eine Befreiung.

Gewinnen die Frauen im Festival also doch an Raum?

Wir haben einige sehr starke weibliche Sichtweisen auf die Welt im Programm. Aber nicht nur! Es ist nicht so, dass Regisseurinnen gezwungenermassen Filme über Frauen machen müssten, das wäre langweilig. Es geht mir mehr darum, Filme zu zeigen, die einen politischen Standpunkt vertreten. Unsere Auswahl knüpft an zeitgenössische Diskurse an, bloss filmisch statt verbal.

Einer der Gäste ist Regisseur John Waters, der «Meister des schlechten Geschmacks». Warum er?

Ich liebe ihn. Er repräsentiert das, wofür Locarno steht: Grenzen ausloten, extrem, radikal und wegweisend zu sein. Er hat innerhalb der Filmwelt die Grenzen neu abgesteckt, und das mit viel Humor. Er ist nicht selbstverliebt. Er geht seine Arbeit mit Leichtigkeit und Selbstironie an.

Warum fiel die Wahl für den «Pardo alla carriera» auf Fredi M. Murer?

Die Cinemathèque suisse sagte mir, sie würde dessen «Grauzone» restaurieren. Ich habe mir daraufhin dieses und viele andere seiner Werke angesehen. «Höhenfeuer» und «Swiss Made 2069» kannte ich schon, auch «Der grüne Berg», der in der ersten Ausgabe der «Semaine de la critique» lief. Dieses Jahr wird er dort als Hommage erneut gezeigt. Mir wurde schnell klar, dass wir diesen aussergewöhnlichen Filmemacher würdigen müssen, denn Locarno hatte das bisher noch nicht getan. Ich will der Welt ermöglichen, in Locarno einen Ausschnitt aus seinem Werk kennenlernen zu können.

Was verbindet die Filme in der Retrospektive «Black Light» miteinander?

Wir beschäftigen uns dieses Jahr mit der Repräsentation der Blackness im Kino. Ich habe dafür mit dem Kurator Greg de Cuir Jr. zusammengearbeitet. Die Filme sind eine Art dialektisches Abbild unserer Auseinandersetzungen. Wir waren uns sehr oft sehr uneinig, weil wir die Welt unterschiedlich sehen. Er ist ein Afroamerikaner, ich bin eine weisse Europäerin. Er will jede Minorität repräsentiert sehen, das will ich nicht. Ich finde, man sollte einen Film nie nur darum zeigen, weil er etwas repräsentiert, sondern weil er qualitativ herausragend ist und eine neue Form des Ausdrucks und der Ästhetik findet, um etwas Bestimmtes auszusagen. Mir ist für die Retrospektive ein thematischer und politischer Blickwinkel wichtig. Damit habe ich vor einem Jahr am Filmfestival in Belfort angefangen.

Wie kam es dazu?

Es war eine Reaktion auf die #MeToo-Bewegung. Auf einmal setzte die Diskussion ein um Frauen als sozial benachteiligte und ausgenützte Minorität. Dass wir für die gleiche Arbeit weniger verdienen ... Es ist verrückt, ich kann gar nicht glauben, dass das immer noch so ist. Meine Position zu #MeToo war: Ich bin dafür, ich kämpfe für Gleichstellung. Aber vergessen wir darob die anderen nicht.

Das heisst?

Gerade weil ich eine Frau bin, weiss ich, was es bedeutet, materiell und sozial benachteiligt zu sein oder vielleicht sogar verachtet zu werden, selbst wenn es unbewusst geschieht. Schwarze erleben Unterdrückung noch stärker und auf andere Weise, in Frankreich auch die Menschen arabischer Herkunft. Ich lebe in Paris in Montreuil, ich liebe es. Es ist sehr vielfältig. In der Schule meines Kindes, auf der Strasse oder im Bus treffe ich Leute unterschiedlichster Herkunft. Immigration ist ein wichtiger Teil von Frankreichs Geschichte. Ich wollte mich in Belfort unbedingt künstlerisch damit befassen und führe nun in Locarno fort, was ich angefangen habe. Ich will diese Idee ausweiten und diesen sehr zeitgenössischen intellektuellen Diskurs weiterführen, der jetzt in vielen Ländern stattfindet.

Sind Wettbewerbsfilme darum immer so ernst und schwer, weil Festivals sich an solchen Diskursen beteiligen wollen? Wo bleibt der Humor?

Das frage ich mich auch. Ich weiss nicht, warum die Komödie nicht vermehrt als Kunstform wahrgenommen wird. Jemanden zum Weinen zu bringen, ist leicht. Jemanden zum Lachen zu bringen, ist vielleicht die grösste Kunst überhaupt. Wir haben Filme mit leichten, komischen Momenten, aber dieses Jahr tatsächlich keine eigentliche Komödie im Wettbewerb.

Welche Rolle spielt der Schweizer Film für Sie?

Bevor wir mit der Auswahl angefangen haben, habe ich mir vorgenommen, keinen Schweizer Film aufzunehmen, nur weil es ein Schweizer Film ist. Ich finde das respektlos. Ich weiss, dass damit politisch etwas auf dem Spiel steht für das Festival, weil es das grösste und wichtigste ist in der Schweiz. Ich habe deswegen auch einige schwierige Diskussionen geführt. Aber ich blieb dabei. Wir hatten dann das Glück, aus sehr guten Schweizer Filmen auswählen zu können.

Warum gibt es keine eigenen Wettbewerbsvorführungen mehr für Schweizer Kurzfilme?

Ich will auch bei diesen, dass man sieht, dass sie nicht hier sind, nur weil sie Schweizer Filme sind, sondern weil sie gut sind.

Wer als Filmemacherin ernst genommen werden will, muss es aushalten, keine Sonderbehandlung zu erhalten, nur weil man Schweizerin ist?

Ja, das gilt anderswo auch. Sonst wäre das, wie wenn französische Produzentinnen und Produzenten vom Festival in Cannes fordern würden, ihnen gegenüber besonders nachsichtig zu sein. Das geht nicht.

 

Lili Hinstin

Sie wurde 1977 in Paris geboren, studierte Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften in Paris und Padua. 2001 gründete sie die Produktionsfirma Les Films du Saut du Tigre mit Schwerpunkt auf Dokumentarfilmen. 2005 bis 2009 verantwortete Hinstin die Filmaktivitäten der Französischen Akademie in Rom, von 2011 bis 2013 war sie stellvertretende künstlerische Leiterin des Festivals Cinéma du Réel. Bevor sie zur künstlerischen Leiterin des Filmfestivals Locarno ernannt wurde, hatte sie das Entrevues Belfort – Festival International du Film geleitet. (dbc.)

 

Das Interview ist am 27. Juli 2019 in der «NZZ am Sonntag» erschienen.

Bild: Pablo Gianinazzi

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