Meister der Groteske

Der Regisseur Yorgos Lanthimos ist einer der aufregendsten Filmemacher der Gegenwart. Er bleibt seiner Phantasie treu, auch wenn Hollywood ruft. Das beweist er von neuem mit seiner brillanten Komödie «Poor Things», die jetzt wegen ihrer Freizügigkeit für Aufruhr sorgt.

So viele Sexszenen, wie frivol! Wie vulgär! Seit der Premiere von «Poor Things» von Yorgos Lanthimos am Filmfestival Venedig sorgt dessen freizügige Darstellung von weiblicher Sexualität für Aufregung, besonders in den USA.

Das sagt vor allem etwas über den Zustand der Rezipienten aus: Diese müssen sich mittlerweile vom Anblick unbedeckter Haut so sehr entwöhnt haben, dass Nacktheit im Film grundsätzlich empört.

Im Fall von «Poor Things» ist dies absurd. Denn was der griechische Regisseur da zeigt, ist nicht anstössig, auch nicht erotisch, sondern grotesk und sehr lustig. Gerade durch seine Hemmungslosigkeit thematisiert «Poor Things» das verkrampfte Verhältnis zur Sexualität.

«Poor Things» beruht auf dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray und erzählt die Geschichte von Bella (Emma Stone), einer frankensteinschen Schöpfung des genialischen Chirurgen Godwin Baxter (Willem Dafoe) oder «God», wie Bella ihn nennt. Dieser setzte in den Körper einer Selbstmörderin das noch lebende Gehirn ihres ungeborenen Kindes ein und erweckte die Frau mit Elektrizität zu neuem Leben.

Bella ist sein Experiment und lebt abgeschottet von der Gesellschaft in Gods Villa und lernt daher weder Anstandsregeln noch das Gefühl der Scham je kennen. Lanthimos erzählt in dieser Komödie die Coming-of-Age-Geschichte einer Frau, die ihre Sexualität als wesentlichen Aspekt ihrer Persönlichkeit entdeckt.

Sie lebt ihre Lust unbekümmert aus – «furious jumping» nennt sie den Sex – und emanzipiert sich so zuerst von ihrem Schöpfer und später von ihrem Liebhaber Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), der glaubt, sie ausnützen und besitzen zu können. Doch zu Duncans Entsetzen fängt Bella an zu lesen, entdeckt die Philosophie, lernt das Elend der Welt kennen. In der Folge verliert sie das Interesse an ihm und Duncan sein ganzes Geld.

Dafür verdient Bella bald ihr eigenes, als sie sich in Paris als Prostituierte vergnügt und auch, angeekelt von den stinkenden Freiern, die Verhältnisse im Bordell auf den Kopf stellt. Als God im Sterben liegt, kehrt sie nach Hause zurück und wird von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Die Lächerlichkeit des Menschseins

«Poor Things» ist nicht frivol, sondern ein typischer Film von Yorgos Lanthimos. Manche halten ihn für einen Misanthropen. Doch er hasst die Menschen nicht. Lanthimos beobachtet uns bloss, amüsiert sich und erzählt dann in seinen Filmen von der Lächerlichkeit, die der Conditio humana gelegentlich anhaftet – besonders wenn es um gesellschaftliche Konventionen, zwischenmenschliche Interaktion, Macht, Beziehungen und Sex geht.

Er interessiere sich besonders für Frauen und ihren Umgang mit Männern, sagte Lanthimos einmal. Vielleicht deshalb, weil das Kino ihm nie viele Protagonistinnen gezeigt habe. Mit seinem beobachtend-nüchternen Blick und durch das um einen Hauch überzeichnete Schauspiel lässt Lanthimos Unbeholfenheiten ins Groteske kippen und fördert dadurch Wahrheiten zutage, die zu verbergen der Mensch sich sehr viel Mühe gibt. Da können wir noch so schön tun, aber aller Kultur zum Trotz sind wir doch Tiere, Sklaven unserer Triebe.

Unter heutigen Massstäben ist Lanthimos’ Karriere eigentlich eine Unmöglichkeit: Wie die Figuren seiner Filme zur Gesellschaft, so steht sein Kino quer zum kalkulierenden Mainstream, an dem die Branche zunehmend leidet. Als Yorgos Lanthimos 2009 mit seiner tragikomischen Satire «Dogtooth» in Cannes den Hauptpreis der Sektion «Un certain regard» gewann und der Film auch für einen Oscar nominiert wurde, nahm seine internationale Karriere ihren Anfang.

Bald drehte er mit Hollywoodstars. Colin Farrell, ein Fan von «Dogtooth», spielte die Hauptrolle in «The Lobster» (2015) und danach neben Nicole Kidman in «The Killing of a Sacred Deer» (2017). «The Favourite» mit Olivia Colman und Emma Stone war 2019 für zehn Oscars nominiert. Colman gewann einen davon.

Lanthimos ist heute einer der originellsten und interessantesten Filmemacher der Gegenwart. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Greek Weird Wave, einer Gruppe von jungen Kreativen, die zur Zeit der griechischen Wirtschaftskrise in den 2010er Jahren Filme drehten, die sich meist metaphorisch mit der ökonomischen Misere auseinandersetzen. Ihre kleinen Budgets glichen sie mit grossem Einfallsreichtum aus. Man half einander bald vor, bald hinter der Kamera aus. Bis heute arbeitet Lanthimos immer wieder mit seinem damaligen Drehbuchautor und Kameramann zusammen.

Das Geheimnisvolle, Rätselhafte und oft auch etwas Lächerliche der Sexualität haben Lanthimos und einige seiner Kolleginnen und Kollegen der Greek Weird Wave schon immer interessiert. Wenn er heute Sexszenen inszeniert, dann weiss er, was das für die Schauspieler bedeutet, weil er damals in «Attenberg» von Athina Rachel Tsangari den Liebhaber der Protagonistin Marina (Ariane Labed) spielte und selbst nackt vor der Kamera stand.

Seither hat sich Lanthimos stetig weiterentwickelt. War die Ästhetik von «Dogtooth» einem kühlen Realismus verpflichtet, hat sich der Filmemacher mit zunehmendem Erfolg und anwachsendem Budget immer weiter von dieser Inszenierungsweise entfernt, aber ohne dabei seine künstlerische Vision zu verraten. Die Fischaugenlinse, die den Raum krümmt und den Blick manipuliert, ist seit «The Favourite» sein Markenzeichen. In «Poor Things» fügt sich diese Zerrlinse erstmals ganz organisch ins Setting ein: dann, wenn Bella noch in Gods Haus eingesperrt verharren muss, umschlossen vom Bild selbst.

Andere verkaufen ihre kreative Seele, sobald die grossen Produktionsfirmen rufen. Nicht Lanthimos. Auch nicht für Hollywood. Dieser Film ist ein Angriff auf die zur Norm gewordene Prüderie, auf den vom Mainstream bequem gewordenen Geist. Er ist ein Gelage für Auge und Ohr, angesiedelt in einer hochartifiziellen, barock ausgestatteten Steampunk-Version eines fiktiven viktorianischen Englands.

Etwas zu lernen für die Schweiz

Angesichts von so viel Kreativität bei Yorgos Lanthimos könnte man mit Blick auf das hiesige Filmschaffen durchaus neidisch werden. Christos Nikou, Lanthimos’ Regieassistent bei «Dogtooth», erklärte während eines Interviews am Zurich Film Festival zu seinem Liebesfilm «Fingernails», dass es ein Problem mit dieser griechischen Welle gebe: «Das heimische Publikum interessiert sich nicht dafür. Die wollen lieber Mainstream.»

Darin gleichen sich der neue griechische und der jüngere Schweizer Film. Auch hierzulande haben die künstlerisch interessantesten Werke zu Hause miserable Eintrittszahlen, während sie im Ausland an Festivals Erfolge verzeichnen. Aber das war es dann auch schon wieder.

Nikous «Fingernails», produziert von Cate Blanchett, mit Riz Ahmed und Jessie Buckley in den Hauptrollen, wurde von Apple produziert. Athina Tsangari dreht Serien für Amazon oder die BBC. Und Lanthimos’ «Poor Things» ist im Haus Disney für 35 Millionen Dollar entstanden. Da hat die Schweiz noch etwas Nachholbedarf.

Liegt es an fehlendem Talent und fehlendem Ideenreichtum? Von der jüngeren Generation kann man das nicht behaupten. Da sind Kreative am Werk, die den biederen Ruf des Schweizer Films endlich überwinden könnten. Nur die Förderstellen haben noch zu lernen. Denn da gilt nach wie vor: Bloss nicht zu viel wagen.

Etwas wie «Dogtooth» oder «Attenberg» würde bei den Kommissionen von Bund und Kantonen nicht durchkommen. Aber warum eigentlich? Die Filme sind subventioniert, zum Teil auch die Kinos, es gibt keinen Markt, auf dem man bestehen müsste. Also könnte man so viel Risiko eingehen, wie man will.

Die Angst der Förderstellen wie auch der Streamingfirmen geht Filmschaffenden an die Geduld. Und es führt, wie eine Regisseurin berichtet, bei manchen zu einer Schere im Kopf bei der Entwicklung von Stoffen. Man weiss, dass man mit zu gewagten Themen weniger Chancen hat auf Förderung, also nimmt man sich schon bei der Eingabe zurück.

So wird das noch lange nichts mit Schweizer Spielfilmen bei den Oscars. Die Chancen für Yorgos Lanthimos hingegen stehen erneut sehr gut.

 

 

(Am 13.1.2023 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. Bild: Atsushi Nishijima / Searchlight Pictures)

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