Mord! Mord!
Krimis sind enorm beliebt, nur im Kino gibt es sie kaum. «Knives Out» ist eine brillante Ausnahme. Nach dem Kinostart im Januar ist der Film jetzt auch als Stream zu sehen.
Wir alle lieben Mördergeschichten. In Buchhandlungen kann man sehr viel Zeit vor den Regalen mit Krimis verbringen. Wieder einmal einen Wachtmeister Studer von Friedrich Glauser oder doch Dan Brown? Laut dem Börsenverein des deutschen Buchhandels wird ein Viertel des Belletristik-Umsatzes mit sogenannter «Spannungsliteratur» gemacht. Auch am Anfang des Podcast-Booms stand mit «Serial» ein Krimi. Sarah Koenig und Julie Snyder rollten darin 2014 den bis heute nicht aufgeklärten Mord an der Studentin Hae Min Lee nochmals auf, um herauszufinden, ob Adnan Syed, ihr mutmasslicher Mörder, zu Unrecht zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.
«Tatort» gehört für sehr viele seit Jahrzehnten zum Sonntagabend. Und wenn nicht «Tatort», dann ein Kriminalfall auf Netflix oder einem anderen Streamingkanal. Die Serienwelt, so hat man den Eindruck, besteht vor allem aus Polizisten und Detektivinnen, die Gewalttäter jagen. Ob es fiktive oder auf wahren Begebenheiten beruhende True-Crime-Geschichten sind, man hat sich daran gewöhnt, dass man alle paar Tage mit einer neuen, die Nerven zerrüttenden Serie anfangen kann. Die populäre Figur des mit persönlichen Problemen kämpfenden Ermittlergenies geht auf die Philip-Marlowe-Romane des Autors Raymond Chandler zurück, der den Film noir prägte. Auch Netflix gab neulich bekannt, dass «The Ted Bundy Tapes: Limited Series» die beliebteste Dokuserie 2019 war. Sie rekonstruiert die Verbrechen des Vergewaltigers und Serienkillers, der zwischen 1974 und 1978 mindestens dreissig junge Frauen und Mädchen ermordete. Der beliebteste Film auf Netflix war «Murder Mystery», eine Krimikomödie mit Jennifer Aniston und Adam Sandler.
Krimis sind extrem beliebt. Im Kino findet man sie aber kaum. Der letzte war das missglückte Remake von «Murder on the Orient Express» (2017) von Kenneth Branagh. Der Cast um Johnny Depp und Michelle Pfeiffer hatte keinen Charme, die Bilder wirkten so aseptisch, dass es einen fror. «Gosford Park» von Robert Altman, der letzte gute Ensemble-Krimi, liegt fast zwanzig Jahre zurück.
Feindselige Erben
Jetzt – endlich! – gibt es wieder einen. Und was für einen: «Knives Out» von Rian Johnson ist eine Krimisatire und eine Hommage an Agatha Christie, beruht aber nicht auf einem ihrer Romane. «Knives Out» ist sehr spannend, von bissigem Humor, herausragend dicht inszeniert und besetzt mit einem Cast, den man in einem unabhängig produzierten Film kaum zu erwarten wagt: Daniel Craig, Toni Collette, Chris Evans, Michael Shannon, Jamie Lee Curtis oder Christopher Plummer.
Letzterer spielt das Familienoberhaupt Harlan Thrombey, der am Morgen nach der Feier seines 85.Geburtstags von seiner Pflegerin Marta (Ana de Armas) tot aufgefunden wird. Es sieht aus wie Selbstmord. Aber war es das auch? War es gar ein letztes, makaberes Spiel des Toten? Tatsächlich könnte der Anfang von «Knives Out» der Phantasie des Opfers entstammen, denn Thrombey war Krimiautor und so erfolgreich, dass er zum Millionär wurde. Wenn Detektiv Benoit Blanc (Daniel Craig) Thrombeys Nachkommen verhört, sitzen sie vor einer Skulptur aus Messern, die optisch an den eisernen Thron aus «Game of Thrones» erinnert. Nur dass die Verdächtigten hier nicht auf die Weltherrschaft aus sind, sondern auf das Millionenerbe. Wie sich herausstellt, könnten alle ein Motiv haben, um dem Familienoberhaupt nach dem Leben zu trachten.
«Knives Out» ist zwar ein klassisches «Whodunit», aber Rian Johnson, der auch das Drehbuch geschrieben hat, spielt gleichzeitig mit den Konventionen des Genres: Die Figuren, vor allem der Detektiv, sind Überzeichnungen ihrer mittlerweile klischierten Vorbilder; die Darstellerinnen und Darsteller geniessen es ganz offensichtlich, diese Rollen zu spielen, und für einen selbst ist es ein Genuss, ihnen dabei zuzuschauen. Weil Johnson die Gewohnheit unterläuft, dem Publikum erst am Schluss zu eröffnen, wer es war, und stattdessen schon früh deutliche Hinweise auf die Täterschaft gibt, rätselt man nicht bloss darüber, wer es gewesen sein könnte, sondern versucht, der Psyche der einzelnen Figuren auf den Grund zu kommen. Und diese sind komplex. Das Gut-böse-Schema funktioniert nicht. Dank der Komplexität und Ambivalenz einzelner Figuren ist «Knives Out» nicht nur Krimi, sondern auch ein Sittengemälde.
Johnsons Film ist eine brillante satirische Demontage der amerikanischen Zweiklassengesellschaft. So arrogant die reichen Weissen sich der Pflegerin Marta gegenüber verhalten, einer Tochter südamerikanischer Einwanderer, so nervös werden sie unter den Fragen des Detektivs. Sie haben alle etwas zu verbergen, und zwar mehr als das, was man im ersten Moment glaubt.
Erfolg an der Kinokasse
«Knives Out» ist eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur, weil es im Kino kaum Krimis gibt, sondern auch deswegen, weil man so grosse Starensembles heute sehr wohl in Superheldenfilmen wie «Avengers» findet, aber kaum je in Independentproduktionen. Dass Rian Johnson zu den Grossen in Hollywood gehört, seit er für «Star Wars: Episode VIII – The Last Jedi» verpflichtet wurde, dürfte natürlich dabei geholfen haben, Daniel Craig als Ersten für «Knives Out» zu verpflichten.
Dieses «Whodunit» ist auch deswegen aussergewöhnlich, weil es weder Remake noch Trilogie, weder Fortsetzung noch Neuverwertung von Altbewährtem ist. Es ist ein eigenständiges Werk, wie man es aus dem späten 20.Jahrhundert kennt, als es auch im Mainstreamkino eigenständige Geschichten gab, egal, ob Action- oder Liebesfilm.
Das Publikum hat offenbar grosse Lust auf solche Stoffe: «Knives Out», der 40 Millionen Dollar gekostet hat, spielte bis jetzt weltweit 224Millionen Dollar ein. Er ist für drei Golden Globes nominiert, die heute Sonntagnacht verliehen werden. Dieser Erfolg an der Kinokasse lässt hoffen, dass die oft prophezeite «Franchise-Müdigkeit» doch noch einsetzt und 2020 das Kinojahr der klugen und humorvollen Unterhaltung wird.
Erschienen am 29. April 2020 auf nzzas.ch
(Bild: Universum Film)