Neue Brüste für Mascha
Um Schönheitsoperationen und Scheinarmut geht es im russischen Märchen von Anna Melikian.
«Ohren – Brüste – Lippen – Beine» steht auf einer Liste an Maschas Wunschwand voller Zettel und Fotos aus Zeitschriften. In dieser Reihenfolge will sie ihren Körper verschönern lassen. Denn nur so, glaubt die lebensfrohe, aber untalentierte junge Frau, werde sie ein Star.
In einem Moskauer Club, in dem sie sich als Meerjungfrau in einem Pool räkeln soll und fast ertrinkt, lernt sie Kostja kennen. Der junge Oligarchensohn tut, als sei er arm und ein Dieb, weil er sich für seinen Reichtum schämt. Da er Mascha mag, besorgt er ihr aber das Geld, das sie für ihre Operationen braucht.
Kostja holt das Geld aus dem Safe seines Vaters, der seine Verlobte Rita aus der Villa wirft, als man bei ihr statt einer Schwangerschaft eine tödliche Krankheit diagnostiziert. So landet Rita, die nichts mehr hat ausser den Kleidern, die sie trägt, zuerst bei Mascha im Club und dann auf deren Sofa. Die beiden grundverschiedenen Frauen freunden sich an, und mit der Zeit legt auch Kostja den Hass auf seine Beinahe-Stiefmutter ab.
Wie sein Vorgänger «Rusalka» trägt auch der neue Spielfilm der armenisch-russischen Regisseurin Anna Melikian die Züge eines Märchens, obwohl die Geschichte mitten im russischen Alltag angesiedelt ist. In einem Alltag, der aus zwei verschiedenen Welten besteht: Auf der einen Seite leben die Reichen in ihrer materialistischen, oberflächlichen Welt aus Glas, Stahl und Sichtbeton. Auf der anderen Seite gibt es Menschen wie Mascha in ihren schäbigen Wohnungen. Sie haben nichts ausser ihren Träumen – ausgerechnet von der Welt der Schönen und Reichen da oben.
Unter normalen Umständen würden Mascha und Rita nicht miteinander in Berührung kommen. Aber weil Melikian die Erzählerin ist, verstricken sich die Geschichten der Protagonisten immer tiefer ineinander. So verschieden diese Menschen auch sind, sie haben etwas Wesentliches gemeinsam: Sie wollen leben. Melikian kritisiert mit Schalk und Sarkasmus die oligarchisch geprägte Gesellschaft Russlands. Sie hält dem Land mit kluger Zurückhaltung vor, dass es um seiner Lust an Reichtum und Einfluss willen alles aufs Spiel setzt: Kultur, Moral, Umwelt und vor allem die Menschlichkeit.
Erschienen im Züritipp am 9. Juli 2015