Nichts als die Halbwahrheit

Ob «The Crown» oder True Crime: Filme und Serien, die auf wahren Ereignissen basieren, boomen. Was passiert, wenn das Publikum Fakten und Fiktion nicht mehr unterscheiden kann?

Das ist nicht die Wahrheit, sondern eine fiktionalisierte Version davon. – Mit einem solchen Hinweis müsse Netflix den Trailer von Staffel 5 von «The Crown» versehen, forderte Schauspielerin Judi Dench in einem Artikel der britischen «Times». Dench warf Netflix krude Sensationsgier vor, die dem Königshaus schaden könnte, und äusserte die Befürchtung, dass insbesondere das Publikum ausserhalb Englands die Ereignisse, die diese Netflix-Serie zeigt, für wahr halten könnte. Netflix hörte auf die 1988 von der Queen zur «Dame Commander» geadelte Schauspielerin und weist jetzt auf die «Dramatisierung von realen Ereignissen» hin.

Hinweise auf «wahre Ereignisse» als Basis für Filme und Serien sind omnipräsent. Denn die Fiktionalisierung der Realität zum Zweck der guten Unterhaltung boomt. Reale Personen oder Geschehnisse waren schon immer beliebt in Literatur, Kino und Fernsehen. Aber heute werden so viele «wahre Geschichten» verfilmt, man erwartet mittlerweile geradezu, dass die Schlagzeilen von gestern übermorgen als Verfilmung herausgebracht werden.

Fiktionalisierung der Realität zum Zweck der Unterhaltung ist reizvoll für Produktionsfirmen. Sie gehen kleinere Risiken ein, wenn sie auf Geschichten setzen, mit denen das Publikum bereits vertraut ist. Netflix verdankt seinen Aufstieg den True-Crime-Serien und hält folglich am Konzept fest, sein Publikum mit dieser Art des Erzählens zu fesseln. Die Realität wird zur lukrativen Ware. Und die Nachfrage ist hoch, denn die fiktionalisierte Realität ist ebenso reizvoll fürs Publikum: Mit bekannten Personen oder Ereignissen identifiziert man sich leicht. Das Wissen, dass es sich so zugetragen haben könnte, steigert die emotionale Anteilnahme. Ausserdem suggerieren diese «wahren» Geschichten Teilhabe an einer Realität weit weg von der eigenen. Einer, von der manche träumen, daher der Erfolg von Serien wie «The Crown».

Oder einer Realität, die das eigene Vorstellungsvermögen übersteigt, wie die Terroranschläge von 2015 in Paris. Davon erzählt der Spielfilm «Vous n’aurez pas ma haine» von Kilian Riedhof. Das Drama basiert auf dem Buch, das der Journalist Antoine Leiris damals schrieb, nachdem seine Frau beim Angriff auf den Klub Bataclan getötet worden war. Was Leiris durchgemacht hat, ist so unvorstellbar tragisch, dass man sich im Kino dafür schämt, sich von einer so pathetisch nacherzählten Version seiner Geschichte unterhalten zu lassen.

Serienkiller als Pop-Stars

Verfilmte Realität, wie in den auf Netflix so beliebten Porträts von Serienkillern, ist reizvoll, weil man sich der Simulation einer echten Gefahr aussetzt, realen Nervenkitzel erlebt und sich zugleich moralisch auf der richtigen Seite weiss. Aber ist man es wirklich? Kino ist Verführung. Einen Film zu sehen, heisst, sich verführen zu lassen. Je stärker man emotional involviert ist, desto leichter vergisst man, dass man es mit dem Resultat von erzähltechnischen Kunstgriffen zu tun hat. Mit Auslassung, Zuspitzung, Dramatisierung. Schliesslich sollen Filme nicht langweilen. Je besser eine Geschichte erzählt wird, desto schwerer fällt das Abstrahieren. Fiktion und Realität verschwimmen. Das kann problematisch sein, insbesondere, wenn es um gesellschaftlich und politisch relevante oder heikle Themen geht.

Im Archiv der «New York Times» kann man eine wütende Warnung vor der «Unehrlichkeit von Doku-Dramen» nachlesen. Es ist eine Kritik am Fernsehfilm «The Final Days» von 1989, der von Richard Nixons letzten Monaten im Weissen Haus erzählt, das aber auf eine Weise tue, die dem Zuschauer verspreche, sich auf unterhaltsame Weise über die Wahrheit hinter der Watergate-Affäre zu informieren, so der Autor. Wenn an sich schon spektakuläre News mit filmischem Spektakel kombiniert würden, wie solle das Publikum das erkennen? Gerade jener Teil, der nicht viel mehr als die Schlagzeilen über die Watergate-Affäre gelesen hat? Doku-­Dramen analysieren nicht die Komplexität von Fakten. Sie leben von Konflikten zwischen Helden und Antihelden, die basierend auf Fakten geschaffen wurden.

Schweizerische Nüchternheit

Entscheidend ist, wie diese Helden und Antihelden inszeniert werden. Welche Haltung die Macher gerade von True-Crime-Serien einnehmen. Diese stehen immer wieder in der Kritik dafür, Massenmörder quasi zu Pop-Stars zu stilisieren, das Publikum dazu zu verführen, unbewusst Bewunderung für diese Mörder zu empfinden. Oder gar Verständnis. Diesen Vorwurf kann man Ryan Murphy machen, dem Regisseur von «Monster: The Jeffrey Dahmer Story», zurzeit eine der beliebtesten Netflix-Serien. Er verwendet so viel Zeit darauf, die Ursache für Dahmers Brutalität in einem Kindheitstrauma zu suchen, dass der Mörder mit der Zeit selbst als Opfer erscheint. Als Opfer der Umstände, von mangelnder Liebe. Die Ermordeten, fast alles schwarze Männer, bleiben verhältnismässig skizzenhaft. Die Wirklichkeit, die Murphy mit seinen Bildern erzeugt, ist den Fakten nicht angemessen.

Anne E. Schwartz, die Journalistin, die vorüber dreissig Jahren als Erste über die Dahmer-Morde berichtete, kritisiert den Regisseur dafür, die Fakten zugunsten von möglichst viel Dramatik vernachlässigt zu haben.

Verglichen mit «Dahmer» ist die SRF-Dokumentation «Der Kindermörder Werner Ferrari» geradezu angenehm zurückhaltend. Sie ist zwar auch mit «True Crime» betitelt, aber nüchtern inszeniert. Das klassische Dok-Format: Betroffene und Experten äussern sich, illustriert wird mit Bildern aus den Medien, Nachinszenierungen sind dezent. Das erinnert daran, wie überflüssig die Dramatisierung von grauenhaften Taten eigentlich ist – und wie bedeutend Sachlichkeit.

Nach diesem Dokumentarfilm hat man kein Bedürfnis, die Fakten zu checken. Zu den Doku-Dramen hingegen gehören die Faktencheck-Artikel mittlerweile dazu. Doch was immer das Resultat davon ist, entzaubert werden die Heldinnen und Helden selten. Die Fiktion ist stärker als die Realität, weil sie einfacher und attraktiver ist als die komplexe Wahrheit.

Die Frage ist, wie diese Gewöhnung an eine aufbereitete Wirklichkeit, an die unscharfe Trennung von Fiktion und Realität und Dramatisierung durch das abendliche Unterhaltungsprogramm, auch unseren Umgang mit Fakten beeinflusst. Wächst die Ungeduld der komplexen Realität gegenüber? Erwartet die Öffentlichkeit Zuspitzung und Drama auch vom Qualitätsjournalismus, der doch der Faktentreue verpflichtet ist? Die Chefredaktoren von «Der Spiegel» beugten sich dieser Erwartung, und der junge Journalist Claas Relotius hat ihnen das Drama mit seinen erfundenen Reportagen geliefert.

 

(Zuerst erschienen am 6. November 2022 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Keith Bernstein)

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