Nur prügeln reicht nicht

Viele Filme, in denen Frauen zur Waffe greifen, zelebrieren einen Pseudofeminismus. Weil sie Stärke mit Gewalt verwechseln. Das zeigt der Actionfilm «Tiger Girl».

Zack! Ein Fusstritt, und weg ist der Seitenspiegel. «Jetzt hast du Platz», sagt Tiger (Ella Rumpf) zu Maggie (Maria-Victoria Dragus), die ihr Auto neben dem schmaler gemachten SUV abstellt. Tiger ist Ordnerin auf dem Parkplatz und arbeitet nach ihren eigenen Regeln. Maggie, gerade eben von der Polizeischule geflogen, ist erschrocken und fasziniert zugleich. Erst recht, als Tiger am gleichen Abend an der U-Bahn-Station auftaucht und die drei Typen verprügelt, die Maggie begrabschen. Tiger verliert dabei ihren Baseballschläger. Er rollt Maggie vor die Füsse. Sie greift ihn sich, zögert kurz, dann schlägt sie zu.
 
Die beiden jungen Frauen sind die Protagonistinnen in Jakob Lass’ drittem Spielfilm. Tiger, der selbstsichere Outlaw, lebt am Rand der Gesellschaft und in einem zur Wohnung umfunktionierten Bus. Sie kümmert sich um ihre beiden nichtsnutzigen Junkie-Freunde. Maggie, das Mädchen mit den Perlohrringen, das krampfhaft irgendwo dazuzugehören versucht und keine Ahnung hat, wer sie ist und was sie will, wird zu Tigers Projekt. Sie benennt sie um in «Vanilla the Killer» und sagt: «Du bist immer so übertrieben höflich. Aber Höflichkeit ist auch eine Form von Gewalt, bloss gegen dich selbst. Sag einfach, was du willst, dann kriegste das auch.»
 
«Vanilla ist wie eine Schülerin für Tiger», sagt Tiger-Darstellerin Ella Rumpf im Gespräch. «Aber eine, die immer schlechter wird.» Denn während Tiger ihrem privaten Moralkodex folgt und nur zuschlägt, wenn sie findet, jemandem geschehe Unrecht, verfällt Vanilla dem Prügeln um des Prügelns willen.
 
Zu Beginn findet Tiger es praktisch, dass Vanilla eine Ausbildung zur Securitas-Wärterin macht und so Zugriff auf Uniformen bekommt. Sie will die Wirkung dieser Kleider testen, die Überlegenheit signalisieren und ihre mehr oder weniger gewaltsamen Aktionen dadurch legitimieren.
 
Tiger und Vanilla fangen an, Männer zu demütigen, indem sie sie zwingen, sich bei inszenierten Personenkontrollen nackt auszuziehen. Oder ihnen handkehrum verbieten, im Park oben ohne herumzusitzen. «Das ist beleidigend, Mann. Zieh dein T-Shirt an», fordert Tiger. Wenn sie eine Schachtel voller Porzellan zerschlagen, dann gehört das zum Ausbildungsprogramm für Vanilla. Der anrückenden Polizei – zwei Ex-Kollegen von Maggie/Vanilla – geben sie zu Protokoll, dass sie hier für Ordnung zu sorgen versucht, aber keine Chance gehabt hätten gegen die leider entwischten Täter.
«Tiger Girl» ist wie sein Vorgänger «Love Steaks» (2013) eine Mischung aus Fiktion und Dokumentation. Statt auf einem Filmset arbeitet Jakob Lass an Schauplätzen wie etwa in einem Warenhaus oder in Parks, seine Darstellerinnen interagieren mit Laien, die Dialoge sind improvisiert.
 
Frauen wie Tiger und Vanilla, die sich nehmen, was sie wollen, die unfrisiert sind und keine Hotpants tragen, die ihre Wut rauslassen, statt sie runterzuschlucken, die sich also prügeln, wenn sie es für nötig halten – das gibt es fast nie im Kino. Denn Frauen, so will es das traditionelle Rollenbild, schlagen nicht. Sie sollen im Konfliktfall den Dialog suchen.
Gewalt ist in westlichen Kulturen ein Merkmal von Männlichkeit. Frauen haben sanftmütig und mütterlich zu sein. Wut richten sie eher gegen sich selbst als gegen andere. Frauen erleben Gewalt, statt sie auszuüben, und lassen sich von Helden retten.
 
«Tiger Girl» foutiert sich um solche Geschlechterklischees. Das macht den Film, selbst wenn er ein paar dramaturgische Schwächen hat, so faszinierend. Und auch irritierend, weil man an sich selber merkt, wie sehr man, geprägt vom Kinokult um Männergewalt, von den beiden erwartet, dass sie ihre Fäuste doch besser im Sack und Vernunft walten lassen.
 
Das Beste an «Tiger Girl» ist aber, dass die beiden – anders als die «Super Bitches und Action Babes» wie Angelina Jolie in «Tomb Raider», Milla Jovovic in «Resident Evil» oder Scarlett Johansson in «Lucy» und jetzt in «Ghost in the Shell» – nicht nur darum zuschlagen, weil das dem Auge des Betrachters gefällt. Oder weil sie sich an jemandem rächen wollen. Sie sind auch keine Comic-Kriegerinnen und haben keinen Ziehvater, der sie ausbildet und als Köder für seine persönliche Mission einsetzt. Ausserdem sind Tiger und Vanilla immer ordentlich angezogen statt halb nackt. Ihre Gewalt hat nichts mit Sex zu tun.
 
Das ist neu, denn seit dem Auftreten der Femmes fatales im Film noir ist weibliche Gewalt an Sex gekoppelt.
Im klassischen Hollywood war Gewalt männlich: Im Western zivilisierte der Mann die Gesetzlosen. Im Gangsterfilm verteidigte er seine Ehre, im Kriegsfilm seine Heimat. Dadurch, dass Männer Gewalt ausübten, hoben sie sich von den Frauen ab. Die neu entdeckte Femme fatale mit ihrem mysteriösen Sex-Appealwar zwar faszinierend, aber auch abnormal. Dass sie gewalttätig war, war kein Beweis für Eigenständigkeit, sondern für ihr Aussenseitertum und ihr Scheitern als Frau. Darum musste sie am Ende gebändigt werden: Entweder sie starb oder heiratete.
 
Als in den siebziger Jahren die Feministinnen auf die Strasse gingen, fand man im Kino sogenannte starke Frauen als «Final Girls» in Horrorfilmen. Die berühmteste war Nancy Thompson in Wes Cravens Horrorklassiker «A Nightmare on Elm Street». Sie bot Freddy Krueger die Stirn und überlebte als Einzige. Andere gab es in den Blaxploitation-Filmen wie «Foxy Brown» von Jack Hill. Heldinnen wie Foxy (Pam Grier) waren alle ähnlich: sexy, unabhängig, mutig, glamourös. Äussere Umstände zwangen sie zur Gewalt, ihr Ziel war es, die Welt wieder in Ordnung zu bringen.
 
In den 1980ern entstand aus den Blaxploitation-Heldinnen, dem Final Girl und der Femme fatale ein neuer gewalttätiger Frauentyp. Der schockierte, weil die Filme als Symptome für einen tatsächlichen Wandel der Geschlechterverhältnisse gelesen werden konnten.
 
Den Anfang machte «Fatal Attraction» (1987) von Adrian Lyne. Er handelt von einer Frau, die promiskuitiv und gewalttätig ist und ihre Familie zerstört, weil ihr die Karriere wichtiger ist. Dann folgte «Thelma & Louise» (1991) von Ridley Scott. Was als Reise zweier Freundinnen beginnt, endet in der Katastrophe. Weil ein Mann Thelma (Geena Davis) zu vergewaltigen versucht, erschiesst Louise (Susan Sarandon) ihn, sie flüchten vor der Polizei in den Selbstmord. In «Basic Instinct» (1992) von Paul Verhoeven führt Sharon Stone als sexbesessene Mörderin ein freies Leben. Das Unerhörte war, dass Frauen, die bisher diejenigen waren, die Gewalt erlitten, auf einmal selber zu Waffen griffen, statt auf den Retter zu warten.
 
Ebenso unerhört war, dass viele dieser Filme die unterschwellige Botschaft vermittelten: Die Freiheiten kannst du dir nehmen, aber wenn du es tust, wirst du als Frau keine Erfüllung finden.
 
«Thelma & Louise» gab besonders viel zu reden. Viele hielten den Film für gewaltverherrlichend, obwohl es im Vergleich zu männlich besetzten Actionfilmen kaum Tote gab. Man störte sich daran, dass die Heldinnen zwei durchschnittliche Mittelklassefrauen waren, die zur Waffe griffen. Sexbomben oder Wahnsinnigen traute man das zu. Aber Hausfrauen?
Der Film entstand in einer Zeit, in der alle Gesellschaftsschichten von der Auflösung der Geschlechterrollen betroffen waren. Frauen lösten sich vom Herd und fingen an, Karriere zu machen. «Thelma & Louise» machte gewalttätige Frauen in den verschiedensten Filmgenres möglich.
 
Aber wenn man sich ihre Nachfolgerinnen ansieht, so hat man den Eindruck, dass ihre Erschaffer mehr und mehr Angst bekommen hätten vor zu viel weiblichem Drang nach Unabhängigkeit. Auf der Leinwand lassen sich wild gewordene Frauen zähmen, indem man sie sexualisiert. Indem man sie auf Stereotype reduziert und so dem Blick des Zuschauers unterordnet. Sie sollen unterhalten, nicht zu denken geben. Insofern befeuert das kommerzielle Kino mit seinen Comic-Heldinnen und Sci-Fi-Kämpferinnen einen Pseudofeminismus. Das geht so weit, dass Frauen nur dann stark sind, wenn sie auch gewalttätig sind.
 
«Tiger Girl» ist in der Hinsicht eine erfreuliche Ausnahme. Der Film führt vor Augen, wie normal Filmmänner sind, die ihr Selbstvertrauen mit Gewalt aufbauen, und wie gross das Tabu für Frauen ist, wenn sie dasselbe tun wollen. Besonders, wenn es ausserhalb eines Settings stattfindet, das nichts mit Science-Fiction, Action und Computertricks zu tun hat.
«Viele fragen mich jetzt, ob ‹Tiger Girl› ein feministischer Film sei», sagt Ella Rumpf. «Dabei war das beim Dreh kein Thema, dass wir Frauen sind. Es ging bloss um die Figuren. Um eine starke Figur, die der schwachen mehr Selbstvertrauen beibringen will.» Der Vorwurf, «Tiger Girl» sei gewaltverherrlichend, zählt nicht. Denn Vanilla scheitert, weil sie Gewalt mit Stärke verwechselt.
 
Erschienen am 2. April in der «NZZ am Sonntag».
(Bild: Pathé)

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