Ohne seine Tochter
Wie ein Vater sein Kind zu verlieren droht, weil die Behörden versagen.
Als Andreas sich scheiden liess, bekam er ein ausgedehntes Besuchsrecht für seine Tochter zugesprochen. Trotzdem sieht er Laura nur einmal im Monat. Wenn er Glück hat. Nicht weil seine Tochter ihn nicht gernhätte. Sondern weil seine Ex-Frau ihm das Kind vorenthält. Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), die Sozialen Dienste und der Bezirksrat eines grossen Schweizer Kantons wissen das. Aber niemand hilft ihm.
Die Namen in diesem Text wurden zum Schutz des Kindes geändert. Die Behörden bleiben anonym, weil sie sich nur unter dieser Bedingung bereit erklärten, mit dem «Magazin» zu sprechen. Wobei dann niemand die konkreten Fragen beantwortete. In den Akten finde man alles, was man wissen müsse, hiess es. Die Ex-Frau hat das Angebot für ein Gespräch mehrfach abgelehnt.
Keine Babypause
Andreas’ Geschichte beginnt an einem Fest. Ihm gefällt diese Italienerin, Marcella, die immer so schön angezogen ist, energiegeladen und intelligent. Sie werden ein Paar, und er lernt ihre andere Seite kennen. Sie ist extrem eifersüchtig. Ihre Stimmung kann innert Sekunden von euphorisch in gereizt kippen. Sie macht ihm und seinen Eltern vor, super Jobs zu haben, sie behauptet, mehrere Sprachen zu sprechen. Sie gibt damit an, dass sie überall die Beste sei, wie sie Karriere machen und reich sein werde. Sie macht sich lustig über die Schweizer, dieses träge, dumme Volk, und kochen könne hier auch niemand. Andreas widerspricht ihr nicht. Er bewundert sie irgendwie. So erzählt es Andreas in einem der vielen Gespräche.
Marcella hat Ansprüche. Sie will eine schöne, grosse Wohnung, ein Auto. Und eines Abends sagt sie: Jetzt, mit 35, habe sie die letzte Chance, ein Kind zu bekommen. «Das hatte ich nicht erwartet», sagt Andreas. «Sie hat sich immer über Kinder genervt.» Andreas möchte zwar eine Familie, aber noch nicht jetzt. Er ist dreissig und macht sich gerade als Designer selbstständig. Ein paar Wochen später ist Marcella schwanger. Im Sommer 2004 kommt Laura zur Welt, mit Notkaiserschnitt: Marcella liegt auf der Intensivstation, Laura im Brutkasten. Andreas kümmert sich während der ersten Wochen um sein Töchterchen.
Vielleicht liegt es an den Medikamenten, das weiss Andreas nicht, aber die Geburt hat Marcella verändert. Dass etwas nicht stimmt, fällt auch den Ärzten auf. Sie meinen, derartige Komplikationen seien als Folge eines Kaiserschnitts nicht zu erklären. Da müsse ein anderes Problem vorliegen, da komme vermutlich etwas hoch. Wieder zu Hause, will Marcella keine Mutter sein. «Schon als sie schwanger war, sagte sie einmal, sie fühle nichts», sagt Andreas. «Sie sagte, es komme ihr vor, als ob ein Alien in ihrem Bauch heranwachse.» Sie findet, eine Babypause könne man sich heutzutage nicht leisten, und beginnt wieder zu arbeiten, bald 100 Prozent, sie bildet sich weiter. «Es war Marcellas Vorschlag, dass ich mich um Laura kümmere. Sie meinte, ich könne das besser als sie», sagt Andreas. Laura kommt an zwei Tagen die Woche in eine Krippe, den Rest übernimmt Andreas – den Haushalt macht er auch. Seine Eltern helfen ihm. Marcella gefällt das nicht. «Als wir mal im Winter zum Babysitten kamen, hinterliessen wir mit unseren Schuhen Spuren auf dem Plattenboden», sagt die Grossmutter. «Marcella schaute uns böse an, stiess Andreas wortlos an, zeigte auf den Schmutz, er wischte den Boden auf. Erst dann kam er und begrüsste uns.»
Es gibt ständig Streit. Die Grosseltern glauben lange an Missverständnisse: dass Marcella das Schweizerdeutsche vielleicht nicht immer richtig verstehe. Dann begreifen sie, dass Marcella sie absichtlich nicht versteht – immer wenn ihr etwas nicht passt. «Sie hat uns die Worte im Mund umgedreht», erinnert sich die Grossmutter. «Wenn wir Termine ausgemacht hatten, um Laura zu hüten, hiess es, niemand habe uns herbestellt», sagt der Grossvater. Sie schreiben bald alles auf, um allenfalls Beweismaterial zu haben. Wenn Laura weint beim Abschied von ihren Grosseltern, schimpft Marcella mit ihr und wirft der Grossmutter vor, sie schade dem Kind. Sie verbietet ihr, Laura zu lang auf dem Arm zu halten oder sie zu küssen. Als die Grossmutter für alle ihre Enkel zu Weihnachten einen Baum malt, zerreisst Marcella Lauras Bild. Sie ist oft grob mit ihrer Tochter, schimpft, sie sei dumm. Damals ist Laura drei. Wenn sie das Mädchen anschreit, klammert es sich ans Hosenbein des Vaters. Andreas weiss immer weniger, was er denken, und gar nicht mehr, wem er glauben soll. Marcella redet ihm ein, seine Eltern würden ihn belügen. «Er traute seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr», sagt seine Mutter. «Wir mussten das alte Vertrauen neu aufbauen.»
Wer ist Lauras Bezugsperson?
Bis Laura drei ist, kümmert sich Marcella nicht um ihre Tochter. Aber dann kommen zu Weihnachten ihre Eltern aus Italien zu Besuch, und alles wird anders. «Es kam mir vor, als ob meine Schwiegermutter Marcella gegen mich aufhetzte. Sie tuschelten in der Küche, Marcella wollte Laura jetzt ständig um sich haben, riss sie mir aus den Armen, wenn ich mit ihr spielte», sagt er. «Als ob sie eifersüchtig darauf war, dass ich Lauras Bezugsperson war und nicht sie.» Andreas bittet Marcella, ihre Eltern wegzuschicken. Sie ist einverstanden, es tut ihr leid, was passiert ist, die Eltern gehen. Kaum sind sie weg, schreit Marcella Andreas an, was ihm einfalle, ihre Eltern rauszuschmeissen. Ein paar Tage später findet er auf seinem Schreibtisch ein Bündel Zeitungsartikel über Väter, die bei der Scheidung ihre Kinder verloren haben. «Ich würde schon sehen, sagte sie mir, in meinem Scheissland hätte ich als Vater keine Rechte. Sie werde mir alles nehmen», erzählt Andreas. Marcella droht, mit Laura nach Italien zu gehen. Schreibt eine Mail an Andreas’ Eltern, in dem sie über ihn schimpft: Sie bringe das Geld heim und er hänge zu Hause rum. Interessiere sich nicht für ihre Kultur. Mache ihr die schwere Geburt und ihre gesundheitlichen Probleme zum Vorwurf.
Andreas weiss nicht, ob Marcella unter dem Einfluss ihrer Mutter handelt oder ob es eine ihrer Launen ist. Aber er weiss, dass er sich trotzdem nicht trennen will. «Ich dachte, Marcella habe sich vielleicht noch nicht von der Geburt erholt. Aber nicht, dass sie eine schlechte Frau ist», sagt er. Er zweifelt stattdessen an sich. Denkt, er sei zu empfindlich. Schlägt ihr vor, gemeinsam zu einem Psychiater zu gehen. Aber Marcella will nicht, sie will eine Eheberatung. Seine Eltern warnen Andreas, er brauche einen Anwalt. Als er eines Tages entdeckt, dass Marcella Lauras Pass und Dokumente versteckt hat, spricht Andreas beim Elternnotruf vor. Man verweist ihn an den Internationalen Sozialdienst und dort weiter an die Kinderschutzgruppe des kantonalen Kinderspitals. Andreas möchte, dass eine Fachperson ihn und Marcella zu Hause im Umgang mit Laura beobachtet. Doch bei der Behörde heisst es: ohne Trennung keine Unterstützung. Andreas nimmt sich einen Anwalt und veranlasst die Trennung.
Die Partner leben noch fast ein Jahr lang in derselben Wohnung. Marcella schliesst sich mit Laura in ihrem Zimmer ein. Wenn sie rauskommt, hält sie das Kind umklammert – über Wochen geht das so. Sie behauptet den Behörden gegenüber, Andreas sei gewalttätig. «Als ein Richter sie fragte, warum sie nicht ausziehe, behauptete sie, die Frage nicht verstanden zu haben», sagt Andreas. Bald darauf schimpft Marcella Andreas in der Nachbarschaft einen Pädophilen, drogensüchtig sei er auch. Eine Sozialarbeiterin des Kinder- und Jugendpsychologischen Dienstes der Stadt erklärt Andreas, das sei ein Mittel, zu dem Frauen oft greifen, wenn sie ihre Männer ausschalten wollen.
Ein Richter ordnet daraufhin beim Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der lokalen Universität ein Gutachten über Laura an. Eine Sozialarbeiterin führt Tests durch mit der nun Vierjährigen. Sie legt Laura eine kleine Auswahl von sechzig Kärtchen vor. In der Akte sind diese beschrieben: «Bild 24: Ein Mann liegt angekleidet auf einem Bett, ein Kind auf seinem Bauch, die beiden schauen sich an. Bild 25: Ein Mann steht neben einem kleinen Mädchen mit Teddy am Bett, beugt sich hinunter, Decke ist halb zurückgeschlagen. Bild 42: Zwei Kinder, eines davon nur wenig bekleidet, auf einem aufklappbaren Sofa. Eine Videokamera ist auf sie gerichtet, ein Mann mit Fotoapparat.» Kein Kärtchen ist dabei, das Rückschlüsse auf Lauras Verhältnis zur Mutter zuliesse. Das Fazit im Gutachten: «Es ergeben sich keinerlei Hinweise auf pädophile Übergriffe des Kindsvaters.» So steht es im Gutachten. «Aber Marcella verleumdet mich bis heute damit: im Quartier, im Hort, in der Schule, bei Freunden. Manche Nachbarinnen haben ihren Kindern zeitweise verboten, mit Laura zu spielen, wenn sie bei mir war», sagt Andreas. Die Behörden wissen, was die Mutter tut, aber niemand bremst sie.
Ein Beistand habe bei solchen Vorwürfen einzig das Kind zu vertreten und zu klären, inwieweit das Besuchsrecht umgesetzt werden könne, erklärt man dazu bei den Sozialen Diensten. Ob Eltern schlecht übereinander reden, das gehe den Beistand nichts an. Andreas’ Vermutung, dass Marcella nicht nur launisch sei, sondern ein psychisches Problem habe, nehmen die Behörden bis heute nicht ernst.
Kampfscheidungen sind schwierig
Seit sieben Jahren fordert er abzuklären, ob Marcella erziehungsfähig sei, ob bei ihr eine Persönlichkeitsstörung vorliege, ob sie Laura manipuliere und für ihre Zwecke missbrauche. Die Behörden wiegeln ab: Man könne einen Menschen doch nicht so verurteilen. Sie stehe unter Stress. Kampfscheidungen seien schwierig, da überreagiere jeder mal. Um eine Erklärung gebeten, sagt man bei den Sozialen Diensten: «Von einem Beistand wird erwartet, dass er bei solchen Aussagen abklärt, inwieweit die Erziehungsfähigkeit der Mutter sich auf das Kindeswohl auswirkt und ob allenfalls Unterstützung eingerichtet werden sollte.» Genau diese Abklärung steht bis heute aus. Auch der Bezirksrat interessiert sich nicht für Andreas’ Angst um seine Tochter. In einem Beschluss von 2013 heisst es nur, «die Vorwürfe der Borderline-Störung an die Adresse der Mutter standen im Raum, konnten jedoch nicht erhärtet werden».
Die Chefpsychiaterin der kantonalen Kinderschutzgruppe ist die Erste, die beim Bezirksgericht eine Gefährdungsmeldung einreicht. Sie fürchtet um das psychische Wohl des Mädchens, wenn es weiter unter dem Einfluss der Mutter steht. Sie empfiehlt, den Grossteil der elterlichen Sorge dem Vater zu geben, weil er sich bis jetzt hauptsächlich um Laura gekümmert habe. Das Gericht entscheidet anders. Ein Gutachten zu den Eltern, ebenfalls durchgeführt vom Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität, hält zwar beide für erziehungsfähig. Aber der Vater verwöhne das Kind und manchmal bitte er die Grossmutter um Unterstützung. Die Mutter «tendiert sicher zu einer gewissen Radikalität und lässt Ambivalenzen eher nicht zu», heisst es weiter im Gutachten. Aber darum könne sie das Kind besser führen. Auch hier hält man fest, dass der Vater sich «bisher in überdurchschnittlichem Mass um Laura gekümmert hat». Trotzdem empfehlen die beiden Gutachter – darunter die Sozialarbeiterin, die mit Laura den Kärtchentest machte –, das Sorgerecht der Mutter zuzusprechen. Weil sie «für Laura als Mädchen besonders in deren aktueller Lebensphase, aber auch im weiteren Verlauf der Entwicklung ein wichtiges Modell ist». Das Gericht spricht Marcella das Sorgerecht zu, Andreas bekommt ein ausgedehntes Besuchsrecht. Dass das Sorgerecht an die Mutter geht, war bis zur Gesetzesänderung am 1. Juli 2014 üblich. Laut Bundesamt für Statistik wurde es im Jahr 2010 in 7776 Fällen der Mutter zugewiesen, 580-mal dem Vater.
Laura bekommt jetzt von der KESB einen Beistand zugeteilt. Seine Aufgabe ist, darauf zu achten, dass das Besuchsrecht eingehalten wird; die Kommunikation zwischen den zerstrittenen Eltern zu fördern; diesen klarzumachen, wie wichtig beider Kontakt zu Laura ist. Das sei nötig für die gesunde Entwicklung des Kindes, betonen die Sozialen Dienste.
Marcella hat kein Interesse, Andreas an Lauras Leben teilhaben zu lassen. Sie fordert sofort nach der Trennung, die Behörde solle Andreas’ Besuchsrecht einschränken. Sie will mehr Zeit mit Laura, so steht es in den Akten – obwohl Marcella ihre Tochter an den Tagen, an denen sie bei ihr ist, fremdbetreuen lässt, wenn sie arbeitet. Marcella versucht es zuerst bei der Vormundschaftsbehörde, dann beim Obergericht. Laura brauche einen besser geregelten Wochenablauf, der Vater könne ihr das nicht bieten. Das Mädchen schlafe schlecht und habe seine Schulsachen nie dabei. Der Vater lasse das Kind den Schulweg von 250 Metern allein zurücklegen. «Aber sie hatte kein Problem damit, Laura allein mit dem Flugzeug nach Italien reisen zu lassen», sagt Andreas. Der Beistand, der nichts mehr für Andreas tun kann, wie er heute sagt, schrieb damals noch in seinem Bericht, er könne nicht nachvollziehen, «weshalb das Übernachten beim Vater unter der Woche eine Gefährdung des Kindeswohls darstellen sollte, nicht jedoch die Übernachtungen über Wochenenden und während der Ferien». Vormundschaftsbehörde und Obergericht lehnen Marcellas Antrag ab, zur «Stabilisierung des Kindeswohls».
Das ist das einzige Mal, dass der Beistand sich für Andreas einsetzt. Sonst macht er, was die Mutter will. Als Marcella findet, die Leiterin eines Horts rede zu viel mit Andreas, entscheidet sie, Laura brauche diesen Hort nicht mehr. Andreas ist dagegen. Aber der Beistand sagt: «Wir hören auf.» Die Gespräche, zu denen die Eltern im Hort regelmässig eingeladen wurden, könne er, der Beistand, weiterführen. Als Marcella diese Gespräche zu boykottieren anfängt, stellt er sie einfach ein. Bei den Behörden heisst es, ein Beistand könne weder Mutter noch Vater zu einem Gespräch zwingen, lediglich Gesprächsangebote machen. Es liege an den Eltern, diese Angebote anzunehmen.
Er soll nichts übers Kind wissen
«Ich verstehe nicht, warum in keinem der Beistandsberichte nachzulesen ist, wie die Mutter mit Laura umgeht», sagt Andreas. Dass sie Laura verbiete, die beste Freundin zum Geburtstag einzuladen – weil Marcella das Kind und dessen Mutter nicht mag. Dass sie Laura verbiete, sich in der Schule am Abschiedsgeschenk für eine Lehrerin zu beteiligen – weil sie lieber etwas Eigenes machen solle. Dass sie Laura ein Handy kaufe und ihr verbiete, mit ihrem Vater zu telefonieren oder ihm von diesem Handy zu erzählen. «Kein Wort davon, dass ich Laura ihre Plüschtiere nicht zurückbringen darf, wenn sie sie bei mir vergessen hat. Dass ich sie in den Briefkasten legen muss, nicht klingeln darf. Als ich es einmal tat, weil ich es mir nicht nehmen lassen wollte, Laura schnell hallo zu sagen, schrie Marcella mich an und verscheuchte mich. Laura stand daneben», sagt Andreas. Auch stehe in keinem der Berichte, dass Marcella den Lehrern verbietet, mit Andreas über Laura zu sprechen oder ihn über Schulanlässe zu informieren, sagt er. Obwohl die Lehrer per Gesetz dazu verpflichtet wären, ihn auch als Nicht-Erziehungsberechtigten auf dem Laufenden zu halten.
Gefragt, warum von solchen Vorfällen nichts in den Berichten stehe, heisst es bei den Sozialen Diensten: «Ein Beistand ist verpflichtet, der Behörde über seine Tätigkeit regelmässig Bericht zu erstatten. Wird er vom Gericht oder vom Bezirksrat aufgefordert, einen Bericht zu schreiben, sind die Fragestellungen meist klar vorgegeben. Dabei legt der Beistand den Sachverhalt aus Sicht des Kindes dar und macht in diesem Sinne Empfehlungen zum Besuchsrecht.»
Wenn Marcella sich nicht an gerichtlich angeordnete Termine hält, sagt der Beistand, die Eltern müssten halt lernen, besser miteinander auszukommen. Es tue einem schon leid, so was zu sehen, sagt eine Mitarbeiterin der Sozialen Dienste. Aber die Eltern seien derart zerstritten, ein Beistand könne da nicht viel ausrichten. Der Vater überschätze die Möglichkeiten eines Beistands. Dieser müsse die elterlichen Kommunikationsprobleme nicht ergründen. Ihm stelle sich einzig die Frage, wie er das Kind unterstützen könne. – Aus einem Schreiben der KESB geht hervor, dass es in sieben Jahren zwei «persönliche Gespräche» gab zwischen Laura und Beistand.
Alles, was Andreas tut, mache ihn für die Behörden verdächtig, so sein Eindruck. Wenn er zu belegen versucht, dass Marcella Lügengeschichten über ihn erzähle, werfe man ihm vor, er verleumde sie. Wenn er ungeduldig werde mit dem Beistand und nicht mehr mit ihm reden wolle, weil er sich nicht ernst genommen fühlt, oder wenn er in einem Gespräch weinen müsse, nenne man ihn labil, erzählt Andreas. Als er einmal bei der KESB vorbeigeht, weil er sich nicht mehr anders zu helfen weiss, nachdem Marcella ihm sein Kind zum wiederholten Mal vorenthielt, schreibt ein Mitarbeiter der KESB in einer Aktennotiz, der Vater sei, ohne sich vorher anzumelden, erschienen. Andreas hält sich möglichst zurück. Er will nicht wie ein Querulant wirken. «Ich frage mich, wo der Quantensprung an Professionalisierung bleibt, der bei der KESB angeblich stattgefunden hat, seit sie Fachleute beschäftigen und nicht mehr Laien», sagt er. Er verstehe nicht, warum die Fachleute bei der KESB nichts davon wissen wollen, dass es Leute gebe, die psychische Probleme haben, «wie nach meinem Dafürhalten auch Marcella». Statt seine Bedenken zu prüfen, weisen die Behörden darauf hin, dass ein Gutachten über Marcella einige Tausend Franken kosten würde. «Aber sie sind es doch, die die Kosten in die Höhe treiben! Man hätte Zehntausende von Franken sparen können, wenn diese Behörde Marcella konsequent in die Schranken gewiesen hätte, als sie anfing, gegen den richterlichen Beschluss zu verstossen», sagt er.
Nachdem Vormundschaftsbehörde und Obergericht Marcellas Antrag auf Einschränkung des Besuchsrechts ablehnen, wählt Marcella den juristischen Weg. Im Frühling 2013 wendet sie sich an den Bezirksrat mit ihrer Forderung, Andreas’ Besuchsrecht einzuschränken. Um entscheiden zu können, gibt der Bezirksrat Gutachten und Abklärungen in Auftrag, wiederum nur zu Laura. Manche wurden bis heute nicht durchgeführt, obwohl Dringlichkeit besteht: Eines Tages im Juni bekommt Andreas ein SMS von Marcella: «Laura will dich nicht mehr sehen.» Ohne Begründung. Andreas versucht den Beistand zu erreichen. Doch der geht nicht ans Telefon. «Er hat vermutlich meine Nummer erkannt. Denn als meine Nachbarin ihn anrief, ging er ran», erinnert sich Andreas. Er geht davon aus, dass die Behörden Marcella nie nach den Gründen für Lauras angeblichen Sinneswandel gefragt haben. «Wenn die Mutter sagt, das Kind wolle nicht mehr, dann reicht das denen», sagt er.
Die Behörden sagen: «Wenn ein Kind die Besuche beim anderen Elternteil verweigert, hat dies in der Regel vor allem mit der Beziehungs- und Konfliktsituation der Eltern zu tun. Der Beistand versucht in einer solchen Situation, mit den Eltern Probleme und Fragen zu klären und das Besuchsrecht zu fördern. Für die Durchsetzung des Besuchsrechts mit polizeilicher Gewalt fehlt die rechtliche wie auch die ethische Grundlage.»
Nun eine Sache der Juristen
Als Marcella vor vier Jahren bei den Behörden die Einschränkung von Andreas’ Besuchszeit verlangte, fand der Beistand noch, es gebe keinen Grund, etwas an der bestehenden Besuchsordnung zu ändern. Jetzt, im Sommer 2013, geht von ihm die Meldung an den Bezirksrat: Bei Laura zeichne sich «eine zu Besorgnis Anlass gebende Entwicklung» ab. Und dass es dem Kind «nicht mehr möglich sei, die Besuche beim Vater wahrzunehmen». Wie der Beistand zu dieser Einschätzung kommt, sagt man bei den Sozialen Diensten nicht. Stattdessen: «In so einer Situation ist es nicht verwunderlich, dass sich ein Kind zurückzieht und den Kontakt zu einem Elternteil verweigert.» Zudem sei es möglich, dass sich der Zustand des Kindes in einer derart belastenden Situation in ein paar Monaten stark ändern könne.
Dass der «Fall» jetzt beim Bezirksrat liegt, ist aus Andreas’ Sicht das Ungünstigste, was ihm passieren konnte. Tatsächlich sei das nun Sache der Juristen, beantwortet man bei den Sozialen Diensten die Frage des «Magazins», warum sich vom Kinder- und Erwachsenenschutz niemand mehr für Andreas einsetze. Auch darauf, was ein Vater in so einer Situation tun könne, um zu seinem Recht zu kommen, haben die Behörden keine andere Antwort als: Die Eltern müssen lernen, besser miteinander zu kommunizieren.
Sechs Jahre nach der ersten Gefährdungsmeldung durch die Chefpsychiaterin der Kinderschutzgruppe reichen Andreas’ Eltern bei der KESB eine weitere Gefährdungsmeldung ein. Nichts geschieht. Sie fragen nach, und nach wochenlangem Schweigen kommt eine Entschuldigung: Man sei in den Ferien gewesen und die Mitarbeiterin habe leider zu bestätigen vergessen, dass die Gefährdungsmeldung angekommen sei. «Aber kein Wort davon, dass man etwas unternehmen werde!», sagt die Grossmutter. Die Grosseltern schreiben einem aussenstehenden Beistand, den sie in der Diskussionssendung «Club» im Fernsehen gesehen haben; er gehörte damals zu den Mitverantwortlichen, als die KESB umstrukturiert und professionalisiert wurde. «Ich verstehe Ihre Enttäuschung und Hilflosigkeit», antwortet dieser und leitet die Unterlagen an den Rechtsdienst der KESB weiter. Der Rechtsdienst entschuldigt sich: «Mir stehen als Leiter des Rechtsdienstes weder Aufsichts- oder Weisungsbefugnisse, weder über die KESB respektive deren Abteilungen/Kammern noch über die Sozialen Dienste zu.» Er betont, dass man «Ihre Vorwürfe sehr ernst nimmt» und diese «an die zuständige Stelle weiterleiten wird». Wer für den Fall zuständig ist, wissen die Grosseltern bis heute nicht. «Diesbezüglich sind die Verhältnisse leider nicht immer ganz klar umrissen», räumt der Rechtsdienst in einem späteren Schreiben ein. Auf Anfrage gibt der Vorsteher der entsprechenden KESB-Stelle zu, da sei etwas schiefgelaufen. Das hätte nicht passieren dürfen.
Der Bezirksrat beschliesst im Spätsommer 2013, es werde vorläufig ein «unter Androhung der Ungehorsamsstrafe» begleitetes Besuchsrecht angeordnet. Andreas und Laura dürfen einander einmal im Monat sehen, sonntags zwischen 11 und 17 Uhr, in einer Institution speziell für Väter in ähnlichen Situationen. Andreas stellt einen Antrag auf Wiederaufnahme des alten Besuchsrechts. Obwohl ihm das per Gerichtsbeschluss ohnehin zustünde. Der Beistand ist aufgefordert, dem Bezirksrat Bericht über die monatlichen Treffen abzugeben. Der Beistand schreibt, Vater und Tochter hätten einen «engagierten, vertrauten und liebevollen Umgang». Laura habe Andreas «seine Zuwendung mit Herzlichkeit gedankt», die begleiteten Besuche seien «eine grosse Bereicherung» für beide. Was er nicht schreibt: Der Beistand hat Andreas und Laura dort nie gesehen. Diese Einschätzung stammt aus einem Bericht der Institution.
Seit Frühling 2014 hat Laura eine Kinderanwältin. Sie führt ausführliche Gespräche mit Laura. «Endlich nimmt jemand die Aufgabe wahr, die der Beistand versäumt hat», sagt Andreas. Nach dem zweiten Treffen mit Laura ist der Anwältin klar, warum das Mädchen den Vater nicht mehr sehen will: «Der Kontaktabbruch zum Vater ist als Notbremse für Laura zu verstehen, die sich nach den jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern schützen will», schreibt die Anwältin. «Laura hat sich deshalb dafür entschieden, ihren Vater nicht mehr wie bis anhin sehen zu wollen, damit endlich Ruhe in ihr Leben kehrt.» Laura habe nichts gegen ihren Vater, ging immer gern zu ihm, so habe es ihr das Kind erzählt, schreibt sie. Doch sei sie es leid, den Vater vor der Mutter verteidigen zu müssen. Und umgekehrt. Sie ertrage die gegenseitigen Abwertungen nicht mehr und wünsche sich, dass ihre Eltern sich besser vertragen könnten. Schlimm sei, dass sie nie wisse, was passieren würde, wenn ihre Eltern aufeinandertreffen.
«Laura übergab mir im zweiten Gespräch einen vorbereiteten Brief», so schreibt die Anwältin weiter. «In dem Brief steht, dass ihr Vater früher nackt mit ihr in seinem Bett geschlafen habe. Laura hat mir dann aber erklärt, dass sie bei ihrem Vater ein eigenes Zimmer und immer in ihrem eigenen Bett übernachtet hat. Wenn Laura nicht schlafen konnte und doch einmal zu ihm ins Bett gekrochen sei, habe sie das zwar eklig gefunden, wenn er und seine Freundin nackt gewesen seien. Aber sie habe dann einfach eine Decke zwischen sich und ihn gelegt und mit den Armen nach unten gedrückt, um sich abzugrenzen. Es sei auch nie zu irgendwelchen unangenehmen Vorfällen gekommen. Weiter unten in diesem Brief steht, der Vater küsse sie manchmal auf den Mund. Sie habe ihm aber nie gesagt, dass sie das nicht gern habe. Am Ende des Briefs erklärt Laura, sie gebe das alles schriftlich wieder, weil es ihr peinlich sei, darüber zu reden.» Andreas ist sich sicher, dass Marcella Laura den Brief diktiert hat.
Im August erklärt eine Fachpsychologin, was die Anwältin beschreibt und Andreas vermutet. In dem Bericht steht: «Kein Kind schreibt von sich aus solche Briefe. Man kann sagen, dass solche Briefe nahezu immer mit Unterstützung von Elternteilen geschrieben werden.» Und weiter: «Die Verweigerung der Kontakte zu Ihnen als Vater ist nicht Ausdruck einer schlechten Beziehung zu Ihnen, sondern Ausdruck eines massiven Loyalitätskonflikts. Laura opfert einen Elternteil, um zur Ruhe kommen zu können. Nun ist es aber so, dass die Opferung eines Elternteils Schuldgefühle auslöst. Schliesslich liebt Ihre Tochter Sie als Vater und ist sich bewusst, dass sie Ihnen wehtut.» Um diese Schuldgefühle loszuwerden, suche Laura krampfhaft nach Gründen, die es ihr erlauben, den Vater wegzustossen. Dazu reiche es schon, wenn der Vater das Kind einmal tadle. Oder den Erwartungen des Kindes nicht ganz entspreche. Diese Momente würden von den Kindern fast provoziert. Den vorbereiteten Brief sieht die Psychologin als deutlichen Hinweis auf eine manipulative Mutter. Wenn Kinder auf der Suche nach Rechtfertigungen für die Ablehnung eines Elternteils vom anderen Elternteil noch unterstützt würden, dann entspreche das einer indirekten Manipulation, die zum Ziel habe, die Beziehung zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil zu zerstören.» Von einer Mutter sollte man erwarten, dass sie einem Kind aus so einem schweren Konflikt heraushilft. Stattdessen zwinge sie das Kind, die «Opferung des Vaters als Lösungsstrategie zu wählen». Auf die Gefahr, dass Laura in diesen Konflikt geraten könnte, wies man schon im ersten Gutachten vor sieben Jahren hin. Damals stellte die Kinder- und Jugendpsychiatrie fest, die Vierjährige bemühe sich sehr, Mutter und Vater als gleichwertig darzustellen.
Im August 2014 lehnt der Bezirksrat Andreas’ Antrag auf Wiederaufnahme des alten Besuchsrechts ab. Andreas verliert die Hoffnung. Seine Eltern wenden sich nochmals an die KESB. Sie wollen, dass die Behörde eingesteht, dass man den Kontaktabbruch hätte verhindern können, wenn der Beistand getan hätte, was er hätte tun müssen: die Einhaltung des Besuchsrechts überwachen. Man verteidigt sich: Der Beistand habe zweimal mit Laura geredet. Hochzerstrittene Eltern seien schuld am Loyalitätskonflikt des Kindes. So ein Konflikt sei mit einer Beistandschaft, mit Weisungen oder Bussandrohungen nicht zu lösen. Nur «ein Umdenken der Eltern und die Einsicht, dass sie für das Wohl ihres Kindes die Verantwortung tragen», könne den Konflikt beenden. Nachdem es weiter vorn im selben Brief heisst: «Die Aufgaben des Beistands dienen dazu, das Wohl und die Bedürfnisse des Kindes zu wahren.» Andreas hofft kaum mehr, dass er und Laura zu ihrem Recht kommen werden.
Erschienen in DAS MAGAZIN des Tages-Anzeigers am 31. Januar 2015
Illustration: Gregory Gilbert-Lodge