Märchenstunde mit Elvis

Was kann schon schiefgehen, wenn Baz Luhrmann einen Film über Elvis dreht? Viel. Der Regisseur von «Moulin Rouge!» stilisiert Presleys Leben zum Märchen.

«Elvis!», ruft ein Bub hoch zu seiner Mutter und zeigt aufs Plakat zum neuen Werk von Baz Luhrmann, das am 23. Juni anläuft. Was er sonst noch sagt, geht unter im Stimmengewirr an der Kasse eines Zürcher Kinos. Aber in seinem Gesicht steht, dass er diesen Film unbedingt wird sehen wollen. Wenn die Eltern es ihm erlauben, wird er für zweieinhalb Stunden in eine märchenhafte Show eintauchen. Denn in so eine hat Luhrmann Elvis’ Leben verwandelt.

Austin Butler spielt den «King of Rock’n’ Roll» mit Leidenschaft, aber was Luhrmann von ihm verlangt, sind trotzdem fast nur ikonische Posen: Elvis, wie er unter seiner Schmalzlocke hervorblickt. Elvis, wie er ekstatisch am Mikrofon mit den Knien schlenkert. Wie sein schwerer Blick im Drogendelirium noch schwerer wird. Und wie das Leben in ihn zurückkehrt, sobald mit dem Kreischen der Fans diese Wellen von Liebe auf ihn zurollen.

«Elvis» ist zwar nach dem Star benannt, aber Luhrmann erzählt dessen Geschichte aus der Perspektive seines Managers Colonel Tom Parker (Tom Hanks). Dieser ist ein Mann des Zirkus, ein meisterhafter Manipulator, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Später ein spielsüchtiger Gauner, der den naiven jungen Sänger zu seinem Geldautomaten macht, zu seinem Zirkuspferd. Dieser Colonel ist so stark überzeichnet, Tom Hanks’ Kostüm und Maske so grotesk, dass es einem schwerfällt, ihn ernst zu nehmen.

Elvis fehlt die Sinnlichkeit

Im Zoom-Interview danach gefragt, warum er Elvis’ Geschichte aus der Sicht des Colonels erzählt habe, sagt Luhrmann: «Es interessiert mich, wie Shakespeare anhand einer historischen Figur von einer grossen Idee erzählt. Oder nehmen wir ‹Amadeus› von Milos Forman. Geht es da um Mozart oder um Eifersucht?» Man könne im Colonel den Bösewicht sehen oder aber den Stellvertreter von Fans, die von ihren Idolen immer noch mehr wollten und von diesen verlangten, für immer jung zu bleiben. «Parker sagt am Ende: ‹Nicht ich habe Elvis getötet. Er hatte einfach zu viel Liebe für sein Publikum›», schliesst Luhrmann.

Gierige Fans als Mörder ihrer Ikonen? Das setzt der Film nicht um, im Gegenteil. Die Liebe der Fans ist Elvis’ Elixier. Der Manager hingegen will Geld daraus machen. Also zwingt Parker den Sänger noch als halbtotes Wrack und mit Amphetaminen fitgespritzt auf die Bühne. Er verhindert, dass Elvis auf Welttournee geht, und lässt ihn stattdessen im Luxushotel in Las Vegas verrotten. Und alles nur, weil der raffgierige Colonel von dubioser Herkunft keinen Pass besitzt und darum die USA nicht verlassen kann.

Die Geschichte ist tragisch. Aber sie lässt einen als Zuschauerin seltsam kalt. Das Problem mit «Elvis» ist, dass Luhrmann über das Leben seines Protagonisten hinwegschlittert wie über blank poliertes Parkett. Darauf spiegeln sich die Bilder, die die Öffentlichkeit sich von ihrem Star gemacht hat. Am Anfang zeigt der Regisseur mehrere davon gleichzeitig in einer Split-Screen-Sequenz. Aber diese Collage ist zu lang, zu oberflächlich. Sie versperrt den Zugang zum Film.

Bei «Moulin Rouge!» (2001) wirkte eine rasend montierte Bilderflut als Intro noch überwältigend. Sie versprach Aufregung und Spektakel. Mit der Kamera flog man mitten hinein ins Treiben des noblen Pariser Nachtklubs und wollte am Ende nicht wieder heraus. Man litt mit der Kurtisane und ihren Poeten mit, wie 1996 schon mit dem todgeweihten Liebespaar in «Romeo + Juliet».

Aber «Elvis» fehlt die Sinnlichkeit. Ausgerechnet. Es ist, als ob Luhrmanns opulente Art des Inszenierens ihn am Erzählen hinderte. Er ordnet Presley seinem Stil unter, stellt ihn in seinen Dienst. Elvis’ Persönlichkeit spürt man nur in drei Szenen: dann, wenn er sich dem Willen des Colonels verweigert und bei Shows nicht das liefert, was der Vertrag vorschreibt. Einmal etwa lässt er im Fernsehen in schwarzer Lederkluft den ungezähmten Elvis von damals wieder auferstehen, statt im Weihnachtspulli «Here Comes Santa Claus» vorzutragen.

Luhrmann lässt den realen Menschen hinter dem Mythos verschwinden und überhöht diesen noch. In seiner märchenhaften Show befreit Elvis mit seinem Hüftschwung Amerika von seinen sexuellen Neurosen. Nachdem die Sittenwächter, panisch geworden ob all der entfesselten Teenage-Mädchen, ihn zur «Bedrohung für die nationale Sicherheit» erklärt und ins Ausland zum Militärdienst verbannt hatten.

Später macht ihn Luhrmann zum Vermittler im segregierten Land: Elvis, dessen mittellose Familie in einem Stadtteil wohnte, wo die Schwarzen leben mussten, wuchs auf inmitten der afroamerikanischen Kultur. Er bewunderte sie, imitierte sie und trug die verbotene Musik schliesslich hinüber in die Welt der Weissen. Im Film geht das wie von selbst. Das Thema Rassismus wird nur gestreift.

Anarchie auf Disney+

Weil man realen Menschen in Biografiefilmen sowieso nicht gerecht werden kann, warum die Leben dann nicht gleich zur Show verfremden? Das funktioniert dann, wenn man die Liebe der Macher für ihre Figuren spürt. So wie in «Rocketman», dem Film über Elton John. Oder jetzt in Danny Boyles Miniserie «Pistol» über die Sex Pistols, die ikonische Londoner Punkband.«Pistol» läuft an, wenn die Königin von England ihr Thronjubiläum feiert – «God Save the Queen»? Bollocks! Die Sex Pistols auf Disney+, dem Streamingdienst des konservativen Mauskonzerns? Nicht gerade «Anarchy», aber wenigstens ein Überrest von Punk.

Auch diese Serie ist märchenhaft, aber warmherzig. Steve, Johnny Rotten, Glen Matlock, Paul Cook und Sid Vicious sind Persönlichkeiten statt Abziehbilder. Anders als Elvis sieht man sie bei der Arbeit, beim dilettantischen Komponieren der Songs. Es gibt viel mehr Musik zu hören als in «Elvis». Und während Priscilla Presley dort nur Dekoration ist, bekommen in «Pistol» die Designerin Vivienne Westwood und die Musikerin Chrissie Hynde ihren Platz. Hynde, später die Frontfrau der Pretenders, sogar mehr, als sie in Wirklichkeit hatte.

Boyle huldigt dem Stil, den die Sex Pistols prägten: wackelige Handkamera, körnige Bilder, Linsen und Filter, die Euphorie oder Delirium visualisieren. Harte Schnitte brechen den Erzählfluss. Es wird so viel geflucht, dass man sich fragt, ob es dafür eine Klausel brauchte im Vertrag mit Disney.

Auch hier gibt es den gierigen Manager: Malcolm McLaren. Die Sex Pistols sind seine Boyband. Wer seiner Vorstellung von Punk optisch nicht entspricht, wird ersetzt. Auch McLaren ist clownesk, aber Thomas Brodie-Sangster spielt diesen selbstverliebten Impresario mit sympathischer Selbstironie. Überhaupt die Ironie: Craig Pearce, der Drehbuchautor der Serie, ist seit Jahrzehnten der Co-Autor von Baz Luhrmann und schrieb mit diesem auch «Elvis». In «Pistol» platziert er Seitenhiebe gegen den Kinofilm: Eine Zeitung titelt: «Meet the Col Tom Parker». Mit dem Wortspiel auf den sehr uncoolen Colonel ist Malcolm McLaren gemeint. Auf der Amerika-Tour verkleidet sich einer der Pistols mit einem dieser billigen Elvis-Kostüme.

Auch wenn idealisiert und dramaturgisch zugespitzt wird, erzählt «Pistol» von jungen Menschen, die das verkrustete Siebziger-Jahre-England aus seinem Schlaf herausschreien wollen, weil es ihnen «No Future» zu bieten hat. Danny Boyle erweckt diese Ära nochmals zum Leben, und selbst wenn es eine romantisierte Version davon ist, es reisst einen mit. «Elvis» hingegen ist ein opulentes Mausoleum für einen Mythos.

 

(Zuerst erschienen am 12. Juni 2022 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Warner Bros.)

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