Phantasien vom Krieg

Kriegsfilme wie «Im Westen nichts Neues» behaupten, authentisch zu sein. Dabei befriedigen sie nur die Schaulust. Die Bilder des realen Geschehens heben ihre Künstlichkeit noch hervor.

Ein Soldat, der noch Schutz sucht im Schützengraben, wird unter gellenden Schreien von einem Panzer zerquetscht. Auch wenn man schnell die Augen schliesst und sich die Ohren zuhält – ahnend, dass es hier keinen Schnitt geben wird, dass die Kamera einfach draufhalten wird, bis von diesem Menschen nichts mehr übrig ist –, hat man bereits zu viel gesehen. Solche Bilder, die Regisseur Edward Berger seinen Kameramann für «Im Westen nichts Neues» einfangen liess, vergisst man nicht so schnell wieder.

Es ist die dritte Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque von 1928, die nun ins Kino kommt und am 28. Oktober auf Netflix anläuft. Die Handlung folgt dem 17-jährigen Soldaten Paul Bäumer (Felix Kammerer), der zusammen mit seinen Freunden und angesteckt von einer Kriegsbegeisterung – die es einige Jahre nach Kriegsbeginn in Wahrheit gar nicht mehr gab – fürs deutsche Kaiserreich an die Westfront in die Schlacht zieht. Die äusserste Brutalität des Krieges zerschmettert bald jede Illusion von Heldentum, Patriotismus weicht der Todesangst. Stanislaus Katczinsky (Albrecht Schuch), der Erfahrung hat mit dem Schützengraben, hilft den Unerfahrenen beim vorläufigen Überleben. Paul und er freunden sich an.

Anders als bei vielen anderen Kriegsfilmen geht es in «Im Westen nichts Neues» nicht um heimkehrende Kämpfer, sondern einfach nur um das sinnlose Töten. Während «All Quiet on the Western Front» von 1930 sich dem Roman getreu an die Sichtweise der Soldaten hielt, fügt Berger dieser nun noch eine Ebene hinzu. Sie berichtet von Generälen und Politikern, die an ihren reich gedeckten Tischen über Tod und Leben entscheiden. Als ob die Grausamkeiten auf dem Schlachtfeld diesen Kontrast noch brauchten! Lang ausgedehnte Einstellungen von Gewaltakten, die zum Hinschauen zwingen, machen seinen Film schon derart barbarisch, daneben verblassen selbst die Schlachten der für ihre Gewaltexzesse berühmten Serie «Game of Thrones». Was sind schon Schwerter und feuerspeiende Drachen in einem fiktiven Pseudo-Mittelalter gegen Mittel der modernen Kriegsführung wie Granaten, Giftgas und Panzer in der Nacherzählung eines realen Krieges?

Zu wissen, dass es sich damals so zugetragen haben könnte, macht es schwierig, die Gewalt als reine Form von Unterhaltung zu sehen – sie gar schaudernd und voyeuristisch zu geniessen, wie «Game of Thrones» oder «Squid Game» es anbieten. Dies fällt leichter bei humoristischen Kriegsfilmen wie «Inglourious Basterds» von Quentin Tarantino: Wenn jüdische Truppen Nazis skalpieren und Hitler in die Luft sprengen, gibt die Fiktion den damals real Verfolgten die Möglichkeit, sich an ihren Mördern zu rächen. Diese phantastische Umdeutung der Geschichte gibt ein Gefühl der Genugtuung.

Antikriegsfilme gibt es nicht

Der amerikanische Autor und Regisseur Samuel Fuller, der selbst zahlreiche Kriegsfilme gedreht hat, erklärte den Sinn dieses Genres einmal so: «Das Ziel ist es, das Publikum den Krieg spüren zu lassen.» – Den Krieg spüren im warmen, trockenen und sicheren Kinosaal? Spielfilme sind Kunstprodukte und bleiben es trotz Authentizitätsfetisch, der mit langen Einstellungen die Gewalt in Zeit übersetzen und diese dadurch unmittelbar erlebbar machen will. Aber die Distanz zur Realität bleibt bestehen.

In «1917» von Sam Mendes, scheinbar ohne Schnitt inszeniert, folgt man zwei britischen Soldaten, die von der Westfront eine Botschaft an einen Colonel überbringen sollen. Aber die simulierte Echtzeit lässt den Krieg aussehen wie ein Computergame. «Dunkirk» von Christopher Nolan wiederum will das unterschiedliche Zeitempfinden während des Kriegs zeigen. Er schiebt drei Zeitebenen übereinander: eine Stunde, einen Tag und eine Woche. Mit Authentizität hat das aber nichts zu tun. Nolan macht aus dem Krieg ein hochartifizielles Produkt, dem man als Zuschauerin im Imax-Kino staunend erliegt. Wenn der Lehrer am Anfang von «All Quiet on the Western Front» oder nun im Remake seine Studenten in patriotisch-euphorischen Reden fürs «Sterben fürs Vaterland!» begeistert, erliegen auch die Halbwüchsigen einer Fiktion. Im Schulzimmer ist der Krieg für sie nicht weniger eine Phantasie, als er es fürs Publikum im Saal ist – und bleibt; den Bildern vom Realitätsschock und vom massenhaften Krepieren der Soldaten setzen wir uns schaudernd aus.

Man kann Samuel Fullers Erklärung auch als Rechtfertigungsversuch dafür verstehen, den Horror des Schlachtfelds cineastisch in Schaulust zu verwandeln. Denn darum geht es, wenn man ehrlich ist. Der französische Filmemacher François Truffaut stellte einmal fest, Gewalt in Filmen sei zwiespältig. «Ich glaube, ich habe noch nie einen Antikriegsfilm gesehen», sagte er. Am Ende seien auch Antikriegsfilme pro Krieg.

Das Kino huldigt dem Krieg zwangsläufig, weil es die Realität in eine narrative Struktur transformiert. Und diese braucht Zuspitzung, um nicht zu langweilen. Einen roten Faden für die Orientierung. Und Figuren, mit denen das Publikum mitleiden, sie betrauern oder als tragische oder glückliche Helden bewundern kann.

Kriegsfilme gehören zu den beliebtesten aller Filmgenres. Seit es das Kino gibt, erzählt es davon, was Männer einander auf Schlachtfeldern antun, besonders im Zweiten Weltkrieg. Wie diese Filme über den Krieg zu erzählen versuchen, so erzählen sie indirekt auch von der Haltung der Macher und der Zeit, in der sie entstanden sind. Werke, die während Kriegsjahren gedreht werden, sollen Vaterlandsliebe und Moral stärken. Solche, die mit zeitlichem Abstand entstehen, versuchen bei der Bewältigung des Unvorstellbaren zu helfen. Erklärungen zu finden oder sogar abzuschrecken. Aber Anthony Swofford, der in «Jarhead» seine Erinnerungen an den Golfkrieg festhielt, beschrieb, wie er sich mit anderen Rekruten an «Apocalypse Now» und «Full Metal Jacket» aufputschte. Sie gelten als zwei der wichtigsten Filme über Kriegsgrauen.

Die Realität stört die Fiktion

Je weiter der dargestellte Krieg zurückliegt, desto näher liegt die nostalgische Verklärung und damit die Instrumentalisierung der damaligen Realität für leicht konsumierbare Heldengeschichten von heute. Sie befriedigen patriotische Gefühle, aber ohne offensichtliche Propaganda zu betreiben. In «Saving Private Ryan» über die Invasion in der Normandie inszeniert Steven Spielberg die US-Soldaten als typische Hollywoodhelden. So, als ob sie die Weltordnung allein wiederhergestellt hätten.

Der 11. September holte den Krieg für das amerikanische Kino wieder näher an die eigene Gegenwart heran. Weit interessanter als die patriotische Sülze in «American Sniper» von Clint Eastwood sind aber Filme wie «The Hurt Locker» von Kathryn Bigelow: Sie thematisiert das Tabu des Irakkriegs, die Schuld, die Amerika auf sich geladen hat. Sie erzählt vom lebensgefährlichen Job von US-Militärs, die Minen entschärfen, von der Unfähigkeit der Überlebenden, zu Hause wieder ins zivile Leben zurückzufinden.

Und heute? Seit wir auf Social Media den Krieg in der Ukraine mitverfolgen können, kommen die Bilder des Grauens, die Regisseure mit Werken wie «Im Westen nichts Neues» inszenieren, neben Bilder von realer Gewalt zu stehen. Neben Augenzeugenberichten von geflohenen Ukrainerinnen und desertierten russischen Soldaten.

Das Wissen um die Realität dieses Kriegs verändert zwangsläufig die Wahrnehmung von Kriegsfilmen: Die realen Bilder und Videos auf Twitter oder Telegram heben die Künstlichkeit dieser uns als maximal authentisch verkauften Kriegsinszenierungen hervor. Sie erinnern daran, dass Krieg im Kino zum kommerziellen Produkt wird, das die Schaulust bedient. Wenn diese Filme wirklich abschreckend wären, müsste die Welt sich jetzt nicht vor einem Atomkrieg fürchten. In «Apocalypse Now» sagt General Kurtz, es sei unmöglich, jenen den Horror des Kriegs mit Worten zu beschreiben, die diesen nicht selbst erlebt haben. Das kann auch das Kino nicht.

Wenn Kriegsfilme wirklich abschreckend wären, müsste die Welt sich jetzt nicht vor einem Atomkrieg fürchten.

 

(Zuerst erschienen am 8. Oktober 2022 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Netflix)

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