Schlechter Stoff

In der Schweiz fehlen gute Drehbuchautoren. Trotz anhaltender Erfolglosigkeit fördert eine mutlose Industrie am liebsten das Mittelmass.

Dänemark hat Lars von Trier. Österreich hat Ulrich Seidl. Frankreich hat François Ozon. Wen haben wir? Niemanden. Zumindest niemanden, der sein Publikum derart irritieren, provozieren oder faszinieren könnte wie diese Regisseure. Der Grossteil der Schweizer Filme ist mutlos, nie kontrovers. Er drückt sich um die Darstellung von Krisen und Konflikten oder nimmt sich ihrer höchstens in satirischer oder parodistischer Form an. So wie demnächst Peter Luisi in seiner Komödie «Schweizer Helden». Er lässt Asylbewerber «theäterlen», betreut von einer alternden Neureichen mit Minderwertigkeitskomplex und Helfersyndrom. Die Brisanz des Themas verpufft zwischen den Kulissen einer «Tell»-Aufführung, Multikulti-Klischees und schmerzhaft plumpen Dialogen. Peter Luisis Film ist nur eines von zu vielen Beispielen.

Es wundert nicht, dass solche Filme nicht an die wichtigsten A-Festivals wie Cannes, Venedig und Berlin eingeladen werden. Oder dass sie dem Schweizer Film keinen starken Marktanteil bescheren. 2013 betrug er laut Bundesamt für Statistik gerade mal 6,2 Prozent. Derweil kommen Titel aus den USA auf 67 Prozent, jene aus der EU auf 24. Doch trotz mangelnder Beliebtheit setzen Förderstellen, Produzenten und viele Filmemacher weiterhin auf nette Belanglosigkeit.

Kritik von Peter von Matt

Die Frage ist: Warum bloss? Manche vermuten, es liege an unserer Mentalität. «In unserem Land haben Probleme häufig keinen existenziellen Charakter. Das stellt für Autoren eine grosse Herausforderung dar, weil gute Dramen letztlich von realen, handfesten Konflikten leben», sagt Stefan Haupt, Regisseur von «Der Kreis». Daniel Waser von der Zürcher Filmstiftung sieht das auch so: «Der Durchschnittsschweizer hat keinen ausreichenden Erfahrungsschatz, aus dem er schöpfen könnte.»

Aber das Klischee, nur grosses Leiden bringe grosse Kunst hervor, greift zu kurz. Denn der geforderte Erfahrungsschatz dürfte bei Dänen oder Österreichern, bei Franzosen oder Belgiern kaum grösser sein. Dennoch machen sie gute Werke. Ausserdem ist es nicht die Mentalität, die Filme macht, sondern die Industrie. Und die macht etwas falsch. Peter von Matt, emeritierter Professor für deutsche Literatur an der Universität Zürich, sagt: «Die Industrie riskiert nichts und klammert sich an die sicheren Werte. Das heisst, an das, was bei uns immer zu ziehen scheint: sympathische Randständige aller Art. Das führt dazu, dass man nie zu den Orten und Figuren vordringt, wo die für die Gegenwart spezifischen Entscheide fallen: Banker, Lobbyisten, Forscher, Unternehmer, Chirurgen, Bundes- und Nationalräte.»

Zu kleine Honorare

Mehr Mut zu relevanten, radikalen Stoffen wäre das eine. Die Umsetzung in ein gutes Drehbuch das andere. Es gibt in der Schweiz zu wenig Autoren und Autorinnen, die dieses Handwerk beherrschen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein wichtiger: Es gibt keine verbindlichen Regeln für Drehbuchhonorare. Drehbuchautorinnen und -autoren müssen für jeden Auftrag neue Lohnverhandlungen führen. Laut der IG Scenario des Verbands Filmregie und Drehbuch Schweiz (ARF) schwanken die Gagen für ein vollständiges Drehbuch, an dem man mindestens ein Jahr arbeitet, zwischen 20 000 und 100 000 Franken. Weil Drehbuchautoren nicht im Anstellungsverhältnis arbeiten, müssen sie mit dem kleinen Lohn auch noch für ihre Sozialversicherung selber aufkommen.

Das Schweizer Fernsehen investiert nur in Drehbücher von Fernsehfilmstoffen, in der Regel mit Beträgen bis 60 000 Franken. Kinofilme werden erst ab der Herstellungsstufe unterstützt. Der Sender bietet seinen Autoren «verschiedene Formen der Zusammenarbeit» an. Laut ARF haben aber die wenigsten Autoren einen Arbeitsvertrag. Kein Wunder, haben viele Zweitjobs oder wenden sich vom Film ab. Von Verhältnissen, die in den USA zum Teil herrschen, können hiesige Autoren nur träumen. Karl Spoerri, Co-Direktor des Zurich Film Festival (ZFF), weiss: «Schon ein mässig erfolgreicher Autor bekommt in den USA zwischen 250 000 und 300 000 Dollar für ein Drehbuch. Bei grossen Namen wie Aaron Sorkin (‹The Social Network›) liegt das Honorar bei drei Millionen.»

Besonders problematisch ist, dass das Verfassen des Exposés oder Treatments oft nur ungenügend finanziell unterstützt ist. Meist darum, weil Produktionsfirma oder Förderstellen fürchten, das Projekt könnte scheitern. Die Gefahr für unerfahrene Autoren besteht darin, sich von ihrer ursprünglichen Idee abbringen zu lassen, weil Produzenten anfangen, Bedingungen zu stellen. Der Film wird zwar gemacht, aber das Resultat sieht wie so viele typische Schweizer Filme aus: geeignet für ein Fernsehpublikum, dem ein bisschen seichte Unterhaltung am Feierabend genügt. Leider gibt es keine Erhebungen darüber, wie diese vermeintlich anspruchslosen Zuschauer sich entscheiden, wenn sie die Wahl haben zwischen einer US-Serie wie «Mad Men» oder «Breaking Bad» und unseren «sympathischen Randständigen» wie in «Schweizer Helden» oder «Lovely Louise» von Bettina Oberli.

Eine weiterer Grund für die Drehbuchmisere ist die Kleinheit des Marktes. 2013 entstanden in der Schweiz bloss 27 Langspielfilme. Die Autoren haben kaum Gelegenheit, sich im Schreiben zu üben. Kommt hinzu, dass die Förderer lange Unterbrüche provozieren: Einmal eingereicht, liegt ein Buch drei Monate bei der Kommission, bis ein Bescheid kommuniziert wird. Um permanent zu schreiben, müssten Autoren an drei Büchern gleichzeitig arbeiten. Ausserdem fehlt der Kontakt zum Ausland. Man pflege hier lieber sein eigenes Gärtlein, sagen Filmschaffende, statt dass man mit ausländischen Produzenten oder Autoren zusammenarbeite und so seinen Erfahrungshorizont erweitern würde.

Während man sich in Deutschland, Österreich oder Dänemark seit Jahren zum Drehbuchautor ausbilden lassen kann, gibt es in der Deutschschweiz erst seit zwei Jahren qualifizierte Drehbuchlehrgänge. Einen an der Zürcher Hochschule der Künste, den anderen an der Schule für Angewandte Linguistik (SAL) in Zürich. Patrick Tönz hat den SAL-Lehrgang «Drehbuch schreiben» mitbegründet, weil er als Dramaturg feststellte, «dass hier niemand mehr das Handwerk beherrscht». Als das klassische Schweizer Erzählkino aus den fünfziger Jahren vom politischen Kino der 68er Generation abgelöst worden sei, sei das Wissen um das dramaturgische Handwerk verloren gegangen. «Für Autorenfilmer wie Alain Tanner und Kurt Gloor war die politische Aussage wichtiger als das Geschichtenerzählen.»

Ambivalente Figuren

Seit etwa 15 Jahren ist das Erzählkino wieder populärer – nur gibt es jetzt niemanden, der die Nachfrage bedienen könnte. Einfach ist Drehbuchschreiben nicht, «das filmische Erzählen hat nichts mit dem alltäglichen oder literarischen Erzählen zu tun», sagt Tönz. Im Film hat man, anders als im Roman, keinen direkten Zugang zu Figuren. Um dem Zuschauer trotzdem vermitteln zu können, was diese umtreibt, wie es in ihrem Inneren aussieht, braucht ein Drehbuch eine komplexe Handlungsstruktur. Diese fehlt im Schweizer Film meist. Stattdessen wird das Problem über erklärende Dialoge gelöst. Das klingt dann so: A: «Ich dachte, in deiner neuen Lebensphase hast du bestimmt auch mal Lust auf etwas Neues.» B: «Aber, ich und Wolfgang sind doch schon immer zu dir nach St. Moritz gekommen. Die letzten 15 oder 20 Jahre.» A: « Eben. Etwas Veränderung tut uns allen gut.»

Solche «behaupteten Gefühle», wie Tönz sie nennt, wirken plump. «Wenn eine Figur sagen muss, wie sie sich fühlt, ist das schlecht. Der Zuschauer muss das aus ihrem Verhalten schliessen können.» Im Idealfall ist das ein Verhalten, mit dem der Zuschauer nicht rechnet. Über das Gewohnte hinauszugehen, ist für Tönz die nächste wichtige Voraussetzung für ein gutes Drehbuch. «Das Universum des Einzelnen hört da auf, wo die Angst oder die Scham anfängt. Ein Drehbuchautor, der etwas zu sagen hat, muss diese Grenzen überwinden.» Er muss das nicht unbedingt so manisch tun wie Lars von Trier oder Ulrich Seidl. Doch überraschen, verblüffen, faszinieren, das muss ein Drehbuchschreiber können.

Einer, der alles anders macht und somit vieles richtig, ist Simon Jaquemet. Der 36-jährige Zürcher Regisseur erzählt in seinem Erstlingswerk «Chrieg», das am ZFF Premiere feiert, von etwas, das man nicht kennt und auch nicht kennenlernen möchte. Es geht um den 16-jährigen Matteo, der keine Ahnung hat, was er mit sich und seinem Leben anstellen soll. In den Augen seiner überforderten Eltern ist er ein Querulant, der auf den rechten Weg zurückgebracht werden muss. Sie schieben ihn ab auf eine Alp, wo er zusammen mit anderen Irrläufern durch harte Arbeit zur Besinnung kommen soll. Was ihn dort erwartet, ist aber nicht Arbeit, sondern zwei Burschen und ein Mädchen, die noch viel schlimmer sind als er.

Was sich in dieser alpinen Ödnis abspielt, ist von enormer Intensität, weil Jaquemet all das tut, worauf man sonst im Schweizer Film vergeblich wartet: Er nimmt seine Figuren ernst. Er erforscht ihr Verhalten, statt es zu deuten. Die Trennlinie zwischen Gut und Böse fehlt, stattdessen sind die Charaktere ambivalent, man pendelt zwischen Sympathie und Abscheu. «Chrieg» ist nicht plakativ gesellschaftskritisch, sondern wagt es, keine Haltung zu den Exzessen der Jugendlichen einzunehmen. Es gibt keine Moral der Geschichte. Stattdessen mutet der Regisseur dem Zuschauer zu, selber seine Schlüsse zu ziehen.

Er habe wohl Glück gehabt, sagt Jaquemet, dass er den Film so habe machen können, wie er wollte, dass er von Bund, Kanton und Fernsehen Fördergeld erhalten habe. Aber Daniel Waser von der Zürcher Filmstiftung sagt: «Das war kein Glück. ‹Chrieg› war ein starkes Projekt.» Es ärgere ihn, dass es immer heisse: Für die Kommissionen musst du alles «abesträäle», sonst kommst du nicht durch. «Wir sehnen uns nach kantigen Projekten, die intelligent gebaut sind.» Auch beim Bund gibt man an, man achte auf die «Originalität des Themas», suche nach «Beiträgen zur Angebotsvielfalt», «Qualität» sei wichtiger als Quote.

Aber auch wenn sie danach rufen: Allzu kantig oder radikal mögen es die Kommissionen, Produzenten oder Berater dann doch nicht. Man mochte Jaquemets Idee zwar überall, aber: «Es gab Drehbuchbesprechungen, bei denen mir nahegelegt wurde, das Verhalten der Jugendlichen zu erklären. Ich müsse als Regisseur einen Standpunkt vertreten und diese Gewalt verurteilen. Aber ich fand es interessanter, die Dinge einfach so stehenbleiben zu lassen, ohne dass die passenden Weisheiten mitgeliefert werden.»

Zwang zu Happy End

Dass er sich durchsetzen konnte, verdanke er seinen Produzenten von Hugofilm, sagt Simon Jaquemet. Noch wichtiger dürften die internationalen Workshops gewesen sein: Beim Torino Film Lab hat Jaquemet mit renommierten Drehbuchautoren und Script Consultants an seinem Film gearbeitet. Er hat nützliche Kritik erhalten von Teilnehmern wie dem Regie-Trio von «Party Girl», dem diesjährigen Gewinner der Goldenen Kamera in Cannes, oder von Razvan Radulescu, der das Drehbuch zum Berlinale-Gewinner «Child’s Pose» geschrieben und an vielen Filmen der neuen rumänischen Welle mitgearbeitet hat. «Das hat mir Rückendeckung gegeben», sagt er. «Sonst hätte es sein können, dass sich wiederholt, was mir mit einem früheren Projekt passiert ist: Das sich eine Phalanx aus Drehbuchcoaches und Produzenten bildet, die mich am Ende davon überzeugt, ‹Chrieg› brauche eine Moral. Ein Happy End. Eine klare Aussage.» Als der Bund ihm den Förderbeitrag zusprach, gab es in der Begründung einen einzigen Negativpunkt. «Da stand sinngemäss, es sei nicht immer klar ersichtlich, ob der Film gewaltverherrlichend sei. – Ich habe das als Lob genommen. Genau das wollte ich ja.»

 

SWISS FICTION MOVEMENT

Simon Jaquemet ist einer von 25 Unterzeichnenden des Swiss Fiction Movement. Die Gruppe fordert eine Umverteilung der Fördergelder des Bundes, denn der Nachwuchs werde vernachlässigt. Sie verlangt einen eigenen Fördertopf für junge Talente. Pro Jahr sollen daraus 10 Produktionen mit je maximal 300 000 Franken unterstützt werden. Das würde dem Schweizer Film mehr bringen, als Beträge von 1 Million Franken in Grossproduktionen zu pumpen, die floppen. Gerade der Nachwuchs könnte die Filmszene bereichern.

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