Seehundkind

«Song of the Sea» ist ein hinreissender Trickfilm, beruhend auf irischer Mythologie. 

Der zehnjährige Ben lebt mit seinem Vater auf einer einsamen Insel vor der Küste Irlands. Seine kleine Schwester Saoirse ist stumm – und sie nervt. Dabei hatte Ben seiner Mutter versprochen, ein guter grosser Bruder zu sein. Damals, als Saoirse geboren wurde und die Mutter starb. Oder eher ins Meer stieg und in jene andere Welt zurückkehrte, der sie genauso angehört wie der Welt der Menschen: Denn die Mutter ist eine Selkie, ein Wesen, das halb Seehund, halb Mensch ist.

Dass auch Saoirse eine Selkie ist, ­bemerkt Ben erst, als die Grossmutter die beiden Kinder nach Dublin holt. Saoirse, unglücklich in der Stadt, spielt auf ihrer Muschelflöte. Da erscheinen magische kleine Lichter, die den Kindern den Weg nach Hause weisen. Doch dieser führt nicht da lang, wo sie hergekommen sind. Stattdessen geraten die beiden in eine Unterwelt voller Geister. Dort erfahren sie, dass eine merkwürdige Krankheit grassiert in deren Reich: Die sagenhaften Figuren drohen zu versteinern. Einzig Saoirse kann sie retten.

«Song of the Sea» ist einer der schönsten Trickfilme, die in den letzten Jahren in die Kinos gekommen sind. Es ist eine poetische Reise in die Welt der irischen ­Mythologie, sprüht vor Fantasie und ist von ganz anderer Qualität als die Kassenschlager aus den Häusern Disney und Pixar. Tomm Moore und sein Team arbeiten mit Aquarellbildern statt Pixeln, sie erschaffen Räumlichkeit durch das Spiel mit Farben statt mit 3-D-Technik. Die Bilder, die an Klee und Kandinsky erinnern, sind unterlegt mit ­gälischer Musik, die klingt wie Feengesang.

Der Film ist warm, melancholisch und mehrdeutig. Statt seine Figuren einem geradlinigen Abenteuerpfad folgen zu lassen, führt Moore sie auf einen rätselhaft verschlungenen Weg. So ist der Film, der Kinder über eine Welt voller Feen, merkwürdiger Musiker und Eulen staunen lässt, auch für Erwachsene faszinierend. Er öffnet das Herz für die Schönheit, die in so vielem steckt, doch die wir leicht übersehen. Und er erinnert uns an den Wert des Erzählens: Nur, wenn wir die Geschichten unserer Vorfahren am Leben erhalten, bewahren wir die Figuren, die sie bevölkern, vor der Versteinerung. Wenn wir schweigen, sterben die Erinnerungen, das Fundament unserer Gegenwart.

 

Erschienen im Züritipp am 24. Dezember 2015

(Bild: Youtube)