Seemannsgarn

In «In the Heart of the Sea» jagt die Besatzung der «Essex» nach Walen. Und Herman Melville nach dem Stoff für einen grossen Roman.

Fast jeder kennt Moby Dick, den Roman von Herman Melville. Etwas weniger bekannt ist vermutlich, dass der Roman inspiriert ist von der folgenden wahren Begebenheit:

1820 wurde im nördlichen Pazifik die Essex, ein Walfangschiff aus Nantucket, Massachusetts, von einem Pottwal angegriffen und versenkt. Die Crew konnte sich zwar in die Beiboote retten, trieb danach aber für über drei Monate auf dem Meer herum. Der Proviant war bald aufgebraucht und die Männer waren gezwungen, zu Kannibalen zu werden, um zu überleben. Der erste Steuermann Owen Chase und der Schiffsjunge Thomas Nickerson gehörten zu den acht Überlebenden. Sie schrieben nach ihrer Rettung auf, was für Torturen sie durchgestanden hatten. Herman Melville, der 1841 in Nantucket auf einem Walfangschiff anheuerte, lernte Owen Chases Sohn kennen, der ihm das Tagebuch seines Vaters zu lesen gab. Melville liess sich von den Aufzeichnungen zu einem Roman namens «The Wale» inspirieren, den wir heute als «Moby Dick» kennen und zur Weltliteratur zählen.

Von der Katastrophe zum Film

Nun hat der Regisseur Ron Howard, bekannt für epische und erfolgreiche Grossproduktionen wie «Apollo 13», «A Beautiful Mind» oder «The Da Vinci Code», basierend auf dem Sachbuch «In the Heart of the Sea – The Tragedy of the Whaleship Essex» aus dem Schicksal der Essex-Crew einen mitreissenden und visuell beeindruckenden Abenteuerfilm gemacht. Wobei er den Tatsachenbericht im Dienste der Dramaturgie leicht verändert:

Er beginnt mit dem alten Thomas Nickerson (Brendan Gleeson), den Herman Melville (Ben Wishaw) dazu bringen will, ihm von seinen schrecklichen Erlebnissen auf der Essex zu erzählen. Melville braucht Inspiration und Nickersons Frau überzeugt ihren Mann, nun doch endlich loszuwerden, was ihn seit Jahrzehnten innerlich auffresse. Nickerson erzählt, das Abenteuer beginnt. Der eigentliche Held ist Owen Chase (Chris Hemsworth), der erste Steuermann, der für Nickerson wie ein Ziehvater war. Howard erzählt, indem er die Handlung auf der Essex immer wieder unterbricht und zurückblendet ins schummrige Zimmer zu Nickerson und Melville, bevor er das nächste Kapitel erzählen lässt. Nach dem Aufbruch der Walfänger ist das eine Sequenz, in der man die gefährliche und eklige Arbeit der Männer kennenlernt, darauf wird der Konkurrenzkampf zwischen dem unerfahrenem, aber hochwohlgeborenem Kapitän und dem erfahrenen Owen Chase etabliert. Und dann kommt der Wal. Der Kampf. Der Untergang. Der Überlebenskampf. «In the Heart of the Sea» ist linear und schnörkellos erzählt, die Geschichte packt einen dadurch sofort und lässt nicht mehr los.

Wie aus Wahrheit Fiktion wird

Durch die Unterbrüche, die jeweils Melville und Nickerson zeigen, macht Howard auch das Erzählen selbst zum Thema. Insofern ist «In the Heart of the Sea» nicht nur ein spannender Abenteuerfilm, sondern auch ein Lehrstück darüber, wie aus Wahrheit Fiktion wird. Wie damals der Autor Melville, so geht auch der Filmemacher Howard frei mit den Tatsachenberichten um. Durch die Fiktionalisierung von Tatsachen laden beide auf ihre je eigne Weise einen an sich profanen Abenteuerbericht metaphorisch auf und machen ihn zum Kunstwerk. Bei Melville wie Howard ist das Meer ein Spiegel der menschlichen Seele, ein gefährlicher Ort, an dem die dunkelsten und schrecklichsten Triebe aus dem Innersten zum Vorschein kommen und zur Bedrohung werden. Während Melville allerdings seine Erzählung mit Exkursen über Gut und Böse, Glaube und Aberglaube, Fragen zu gesellschaftlicher Ungleichheit, der Frage nach der Existenz Gottes spickt und aus dem Wal ein mörderisches Biest macht, ist Howard viel zurückhaltender. Bei ihm ist der Wal kein Monster, sondern eine natürliche Kraft, die sich gegen die Ausbeutung durch die Menschen wehrt. Es dreht sich bei ihm alles um die Frage, wer Jäger und wer Gejagter ist. Kämpft der Mensch gegen die Natur? Oder der Mensch gegen andere Menschen? So wie in der Szene, als die Machtspiele zwischen Chase und Kapitän den ersten Schritt ins Verderben markieren. Oder kämpft der Mensch gegen sich selbst? So wie in dem Moment, als die schiffbrüchigen Männer sich dafür entscheiden müssen, ihren ersten toten Kollegen zu essen oder selbst zu sterben. Während Melville vieles dazu erfand, lässt Howard einiges weg. Dass die Männer ihren eigenen Urin tranken. Oder dass der Cousin des Kapitäns in Wahrheit erschossen wurde und nicht selbstlos Suizid beging, um seinen Kollegen eine nächste Fleischration zu sichern.

Die Kamera als Erzählerin

Tempo, Montage und Kameraführung erinnern an Howards letzten Film, «Rush», für den ebenfalls Anthony Dod Mantle hinter der Kamera stand. Mantle, der für Tomas Vinterberg, Lars von Trier und Danny Boyle gearbeitet hat, ist bekannt für seinen Einsatz von flexiblen Kameras. In «In the Heart of the Sea» hat Mantle jedes Schiff, ob auf dem Meer oder im Studio-Tank, mit mehreren kleinen Kameras ausgestattet, die einem mittels unzähliger, oft wackelnder und schaukelnder Close-ups das Gefühl geben, mitten im Geschehen drin zu sein. Man wird unter Wasser gezogen, Gischt spritzt einem ins Gesicht, splitterndes Holz kracht an einem vorbei, die Haut des Wals ist zum Anfassen nah. Während die Szenen an Land etwas kitschig wirken – wie ein Disney-Trickfilm mit echten Menschen –, haben Mantles satte, immersive Bilder in den Szenen auf dem Meer eine fast schon organische Qualität. Es ist neben Howards Erzählkunst auch und vor allem Mantles Kamera zu verdanken, dass einen der Film derart in seinen Bann zieht.

 

Gekürzt erschienen in der NZZ am Sonntag am 13. Dezember 2015

(Bild: comingsoon.com)