«Shiva Baby»: Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!
Bei einer Shiva, einer jüdischen Gedenkfeier, trifft Danielle auf ihre Ex-Freundin und ihren Sugar-Daddy, und das vor einem Haus voller neugieriger Verwandter und Bekannter. Das Debüt von Emma Seligman ist eine kunstfertig inszenierte schwarze Komödie über einen Horrortag im Leben einer jungen Frau. Auf Mubi.
Eine junge Kanadierin jüdischer Herkunft macht ihren ersten Film, der aus ihren Lebenserfahrungen als bisexueller Millennial schöpft. Doch seit ihre Komödie «Shiva Baby» Premiere gefeiert hat, wird darüber diskutiert, ob Emma Seligman ihre Religion angemessen darstelle. Manche sagen, sie bediene Stereotypen. Andere meinen, sie hätte für diese eine wichtige Rolle keine nichtjüdische Schauspielerin engagieren dürfen.
Solche ideologisch motivierten Diskussionen sind unfair der Regisseurin gegenüber, weil sie den Blick auf die Qualität ihres Debüts verstellen. «Shiva Baby» ist eine 77 Minuten kurze und kunstfertig inszenierte schwarze Komödie über einen nervenaufreibenden Tag im Leben einer jungen Frau, Danielle (Rachel Sennott), die sich das Studium von ihrem Sugar-Daddy Max (Danni Deferrari) finanzieren lässt. Als ihre überfürsorglichen Eltern darauf bestehen, dass sie sie zu einer Shiva, einer jüdischen Trauerfeier, begleitet, bahnt sich ein ungeahntes Chaos an.
Im Haus der Betrauerten – «Wer ist nochmals gestorben?», fragt Danielle, bevor sie eintritt – trifft sie zuerst auf ihre Ex-Freundin Maya (Molly Gordon), dann taucht auch noch Max auf. Mit seiner schönen, blonden, erfolgreichen Unternehmerinnenfrau. Sie trägt ein Baby auf dem Arm und am Handgelenk dasselbe goldene Armband, das Max auch Danielle geschenkt hat.
Maya und Max auszuweichen, ist schon schwierig, und erst recht den Blicken all der tuschelnden Verwandten und Bekannten. Die lauern Danielle überall auf, egal welches Zimmer sie betritt. «Was macht sie eigentlich mit ihrem Leben?» – «Hat sie einen Freund?» – «Einen Job?» – «Sie ist aber dünn geworden!» – «Das mit diesem Mädchen ist hoffentlich vorüber?», wispert es aus dem Gedränge heraus. Und dann will ihr Vater sie auch noch Max vorstellen. Der habe einen Cousin, der ihr bestimmt ein Jobangebot machen könne, doch, doch, komm jetzt!
Eingequetscht zwischen Eltern und Sugar-Daddy, verstrickt sich Danielle in Widersprüche, weil das Bild, das sie für Max von sich entworfen hat, nicht mit dem übereinstimmt, wie die Eltern sie sehen. Die Macht, die sie als Quasi-Prostituierte über ihren Gönner hat und auch geniesst, hat sich soeben in Nichts aufgelöst. Sie möchte fliehen, aber wohin?
Dieses Haus ist eine Falle. Die lauten Gäste der Horror. Obwohl Danielle ihrer Ex-Freundin Maya zunächst aus dem Weg zu gehen wollte, ist sie bald doch froh um ihre Anwesenheit.
Emma Seligman unterlegt das Geplapper, Geschirrgeklapper und Geschrei von Max’ Baby mit einem Soundteppich aus gezupften Streichinstrumenten, einem Stakkato, das sich anschleicht und anschwillt zu nervtötender Intensität, sobald Danielle weder aus noch ein weiss. Man kann nicht anders, als physisch mitzuleiden mit der Protagonistin – die Komikerin Rachel Sennott füllt diese Rolle bis zuäusserst aus.
Seligman sagte in einem Interview, sie habe mit «Shiva Baby» eine junge Frau zeigen wollen, die mit zwei unvereinbaren Seiten ihrer selbst konfrontiert wird: hier das sexuelle und experimentierfreudige Wesen, dort die Tochter, umsorgt von den Eltern. Danielle ist erwachsen, aber doch noch nicht ganz. Sie löst sich ab von den Eltern, die aber immer noch ihre Rechnungen bezahlen.
Dieser Ablösungsprozess, die Orientierungslosigkeit, Zukunftsangst und Suche nach seiner Identität sind so universelle Themen, dass man sich damit identifizieren kann, auch wenn man nicht jüdisch ist. Kontrollwütige Eltern und Verwandte, die sich nicht vorstellen können, dass auch Nichten und Neffen eine Privatsphäre haben, die gibt es überall. Die Universalität macht diesen Film so eindrücklich. In welchem Milieu er spielt, ist gar nicht so wichtig.
Zuerst erschienen am 17.6.2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Mubi)