Sie küssen und sie schlagen sich
Das Liebesdrama «La vie d’Adèle» ist von einer kaum je gesehenen Intensität. Jetzt klagen die Schauspielerinnen, Regisseur Abdellatif Kechiche habe sie ausgenutzt.
Adèle liebt Emma. Sie sieht sie, verfällt ihr und liefert sich ihr aus. Und Abdellatif Kechiche, der Regisseur, lässt sie dabei nie aus den Augen. Sein epischer Film La vie d’Adèle – Chapitres 1&2 hat etwas Dokumentarisches, das unter die Haut geht. Er hat dramaturgische Schwächen, über die man deswegen hinwegsieht. Und er ist intensiv. Einerseits wegen des grossartigen Spiels von Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux – letztere kennt man aus L’enfant d’en haut von Ursula Meier. Andererseits weil Kechiche sich einem irritierenden Hyperrealismus verschrieben hat. Der Film ist schmucklos, es gibt viele und sehr lange Einstellungen, kaum Filmmusik – keine Streicher, die die inszenierte romantische Stimmung verstärken müssten. Die Stimmung erzeugen die Darstellerinnen allein. Und weil die Kamera die ganze Zeit förmlich an ihnen klebt, entgeht ihr keine ihrer Regungen. Kechiche verfolgt sie bei allem, was sie tun, vor allem Adèle. Egal, ob sie isst, küsst oder schläft. So besteht der Film zu einem Grossteil aus Close ups von ihrem Gesicht, sehr oft nur von ihrem Mund. Kechiche lässt sie sprechen, auch wenn sie gar nichts sagt. Manchmal wünscht man sich, er würde sie in Ruhe lassen. Vor allem dann, wenn sie weint. Und sie weint oft.
Chaot, Voyeur, Aufklärer
Abdellatif Kechiche, 1960 in Tunis geboren und in Nizza aufgewachsen, macht keine schönen Filme, aber eindringliche. Er erzählt beunruhigende Geschichten, meist von sozial Schwachen am Rande der Gesellschaft. In L’esquive (2003), einem fast ausschliesslich mit Laiendarstellern besetzten Drama, beobachtet er das Heranwachsen von Jugendlichen in einem heruntergekommenen Pariser Vorort. In La graine et le mulet (2007) erzählt er die Geschichte eines 60-jährigen arbeitslosen Werftarbeiters aus dem Maghreb, der sich in den Traum eines eigenen Couscous-Restaurants flüchtet. Vénus noire (2010) zeigt das wahre Schicksal Sara Baartmans, die Anfang des 19. Jahrhunderts nach Europa kam und als «Hottentotten-Venus» auf Jahrmärkten vorgeführt wurde. Kechiche pendelt in der Darstellung stets zwischen Realismus, Übertreibung und Schamlosigkeit. Er ist bekannt für quälend lange Einstellungen, die zum Hinsehen zwingen; er ist zugleich Voyeur und Aufklärer. Und ein Chaot, der sehr intuitiv arbeitet, seine Geschichten aus hunderten von Stunden Filmmaterial zusammenmontiert. Manchmal hat man den Eindruck, er verliere die Fäden aus der Hand, aber sein Material ist so gut, dass die Filme am Ende doch funktionieren. So wie La vie d’Adèle, ein Film über ein lesbisches Paar, der dennoch kein Lesbenfilm ist, sondern ein wunderbarer, grausamer, ehrlicher Film über die Liebe.
Adèle, 17 Jahre alt, unsicher und auf der Suche nach ihrer Identität, hat eben festgestellt, dass Männer nichts für sie sind, als ihr Emma über den Weg läuft. Emma ist eine Frau in den Zwanzigern, die mit ihren kurzen, blau gefärbten Haaren, mit Jeansweste und schweren Stiefeln zwar ein bisschen zu sehr nach Klischeelesbe aussieht – aber auch nach Rebellion und Abenteuer, reizvoll für die junge Adèle. An einer Strassenkreuzung treffen sich ihre Blicke zum ersten Mal, in einer Bar reden sie zum ersten Mal miteinander, im Park, bei goldenem Sonnenschein, gibt’s den ersten Kuss. Die Kamera ist dabei stets so nah dran, als ob man selber ein Bier bestellen oder sich in Emmas Zahnlücke verlieben würde.
Spaghetti, Austern und Sex
Adèle blüht auf in dieser Beziehung. Ihr Mund lächelt jetzt öfter oder steht halb offen in Erwartung all der Dinge, die sie noch nicht kennt. Sie liebt Emma mit Hingabe und unterwirft sich ihr. Warum auch nicht, Emma ist erfahrener als sie, besser ausgebildet, selbstsicher, stammt aus einer Welt, die Adèle fremd ist. Die Inszenierung dieser Welt bzw. der Unterschiede zwischen Emmas und Adèles Welt wirkt neben der sonst so feinsinnigen Darstellung etwas plump: Bei Emmas Eltern schlürft man Austern, führt philosophische Diskurse und küsst sich bei Tisch. Bei Adèle zuhause gibt es Spaghetti Bolognese, die die Mundwinkel fettig-rot färben; ihre Eltern wissen nicht so recht, worüber sie reden sollen und glauben, Emma gebe ihrer Tochter Nachhilfe in Philosophie, während die beiden im Kinderzimmer ganz andere Dinge treiben.
Die Sexszenen haben zu Reden gegeben, nachdem der Film im vergangenen Frühling in Cannes Premiere feierte. Manche fanden sie unnötig lang, künstlich und klischiert. Andere waren begeistert. Sowas Ehrliches und Intimes habe man jetzt doch noch nie gesehen… Die Szenen sind lang, nüchtern und explizit. Das ist nur konsequent, denn alles andere an diesem Film ist genauso lang, nüchtern und explizit. Kechiche lässt sich für die Entwicklung der Geschichte so viel Zeit, dass man das Gefühl hat, jede Minute im Leben von Adèle und Emma mitzuerleben: Wie der erste Rausch verfliegt, wie Emmas Haare nach und nach verblassen, wie aus dem Abenteuer schwieriger Alltag wird.
Der 179 Minuten lange Film hat in Cannes die Goldene Palme gewonnen, als erster Film über ein homosexuelles Paar und zum ersten Mal ging der Preis nicht nur an den Regisseur, sondern auch an die Hauptdarstellerinnen. Aber nachdem der erste Freudentaumel vorüber war, wurde nach und nach Kritik laut an dem Film. Nicht nur wegen der expliziten Sexszenen. Julie Maroh, auf deren gleichnamiger Graphic Novel das Drehbuch beruht, bezeichnete Kechiches Adaption als Fantasie eines heterosexuellen Mannes von lesbischer Liebe. Seine Darstellung sei lächerlich. Kechiche entgegnete, ihn habe die Begegnung zwischen den beiden interessiert, die Schwierigkeiten des Zusammenseins. Er habe einen Film machen wollen über die Liebe und die Freiheit und widme sein Werk der tunesischen Jugend.
«Kechiche ist ein Tyrann!»
Von dieser Feier der Freiheit haben wiederum die Schauspielerinnen nur wenig mitbekommen. Seydoux und Exarchopoulos beklagten sich in Interviews darüber, wie tyrannisch Kechiche sei. Er habe sie gequält, habe sie manchmal tagelang an einer einzigen Szene arbeiten lassen. Den Streit, als Emma Adèle schlägt, mussten sie so oft wiederholen, dass Adèle das Weinen irgendwann leicht fiel. Er habe nie gewusst, was er eigentlich wolle, darum hätten die Dreharbeiten ein halbes Jahr statt nur drei Monate gedauert. Er habe sie sieben Tage die Woche arbeiten lassen. Sie hätten ihr ganzes Leben nach ihm ausrichten und ihn sogar um Erlaubnis fragen müssen, wenn sie mal einen Abend für sich haben wollten.
Umso mehr zeichnet die beiden aus, was sie unter solchen Bedingungen zu leisten vermochten. Eine derart intime und intensive Liebesbeziehung hat es bisher im Kino kaum gegeben. Love Storys aus Hollywood wirken synthetisch im Vergleich mit dem, was sich zwischen Adèle und Emma abspielt. Und auch Filme des französischen Kinos – obwohl dieses weder zur Selbstzensur neigt, noch dazu, das Drama zu scheuen – sind bezüglich Direktheit und Intimität nicht zu vergleichen mit La vie d’Adèle. Intimacy (Patrice Chéreau) wirkt kalt und in seiner überbetonten Authentizität ein wenig albern. Betty Blue (Jean-Jacques Beineix) neurotisch und Contes Immoraux (Walerian Borowczyk) oder Une Liaison Pornographique (Frédéric Fonteyne) zu offensichtlich provokativ.
In keinem dieser Filme könnte man sich eine Szene vorstellen wie die im Restaurant, gegen Ende des Films, als die beiden sich noch einmal treffen. Sie trinken Kaffee. Das Gespräch misslingt. Und auf einmal nimmt Adèle Emmas Hand, steckt sich einen Finger nach dem anderen in den Mund und beisst und saugt sich mit einer Verzweiflung daran fest, die einem selber weh tut. In Emma Gesicht spiegelt sich zuerst Mitleid, dann glimmt ein kleiner Rest von dem wieder auf, was sie früher hatten. Bis sie schliesslich so aussieht, als ob sie wüsste, dass sie nie wieder so geliebt werden würde wie von Adèle.
Erschienen in der NZZ am Sonntag am 5. Januar 2014