So eine Bitch!
Im Kino galt lange: Männer sind komplex, Frauen kompliziert, sprich anstrengend. Unsympathische Figuren jenseits des «good girl»-Klischees waren von jeher die interessantesten. Und endlich sind die «Unlikeable Female Characters» nicht mehr nur kontrovers.
Unsympathische Frauenfiguren im Film sind ein gutes Zeichen. Solche wie die Dirigentin aus «Tár», die ihre Macht missbraucht. Die potenzielle Mörderin aus «Anatomie d’une chute». Skrupellose Ermittlerinnen von «The Bridge» bis «Marcella». Und ab 25. April im Kino: «Love Lies Bleeding» mit Kristen Stewart als Angestellter eines Boxklubs, die sich in eine neue Kundin verliebt und zur Rächerin wird. All diese Figuren sind Zeichen einer Entwicklung weg von der kulturell tief verankerten Vorstellung, dass eine Frau liebenswert, leise und hübsch zu sein habe. Die Filmbranche pflegte dieses Bild des «good girl» von jeher – neben dem «tough guy» und einer dritten Kategorie, den Aussenseitern, Freaks, Perversen. Diese Grenzen lösen sich nun auf.
Die junge britische Autorin Anna Bogutskaya hat über Filmfiguren, die gegen diese «good girl»-Regel verstossen, das Buch «Unlikeable Female Characters» geschrieben. Und zwar deshalb, so sagt sie im Zoom-Call, weil diese «starken Frauen» sie geärgert hätten, die auf einmal aufgekommen seien. «Dass jede Hauptfigur automatisch stark und ehrgeizig sein muss, ist nur ein Marketingtrick. Es ist langweilig, weil es einschränkt.» Sie will komplexe Figuren. Diese gelten aber oft als «unlikeable» – also als unsympathisch oder als nicht liebenswert. Ihr Buch beschreibt, wie solche Figuren missverstanden wurden und werden, von den einen geliebt, von anderen verspottet.
Tod oder Ehering als Strafe
Jetzt hat Bogutskaya gemeinsam mit dem Zürcher Programmkino Filmpodium für den Monat April eine Reihe mit 22 solchen «unlikeable female characters» gestaltet. Sie wolle damit zeigen, «dass es über die Jahre und im Kino verschiedener Länder viele Variationen der Idee gibt, was eine gute Frau zu sein hat, welche Ideale sie erreichen soll, obwohl diese sich ständig ändern und damit unerreichbar bleiben».
Die Filme, die Bogutskaya ausgewählt hat, zeigen, wie sich die Konsequenzen von «bad girl»-Verhalten im Lauf der Filmgeschichte geändert haben. Während eine Femme fatale, obwohl bewundert und begehrt, für ihren Freiheitsdrang fast immer bestraft werden musste, entweder mit dem Tod oder mit einem Ehering, so können Frauenfiguren aus jüngeren Filmen kriminell sein und damit davonkommen. So, wie es für die Helden des Kinos von jeher normal war. Mafiabosse, Drogenhändler, Massenmörder wurden zu Ikonen. «Das Kino liebt wütende Männer, aber mit wütenden Frauen weiss es nicht so recht umzugehen», so Bogutskaya. Psychopathen wie Arthur Fleck aus «Joker», Travis Bickle aus «Taxi Driver» oder Patrick Bateman aus «American Psycho» sind Kult.
Üblicherweise gelte: Männer sind komplex, Frauen kompliziert – so beschreibt sie es. Wobei «kompliziert» so etwas wie blöde Kuh, nörgelnde Tussi meint, während «komplex» ein schweigsamer Einzelkämpfer ist, ein aus Enttäuschung zum Mörder Gewordener. Cool. «Buebe tüe nid briegge.»
Was die Autorin auslässt, ist das zwangsläufig symbiotische Verhältnis zwischen den klischierten «good girls» und den «tough guys»: Wer niemanden zu retten, zu töten, zu verführen, zu dominieren hat, ist kein Held, kein echter Mann, kein Boss. Laut Klischee sind Männer zum Heldentum geboren. Wer das nicht schafft, ist ein bemitleidenswerter Softie, bekommt weibliche Attribute zugeschrieben und wird quasi kastriert.
Es darf angenommen werden, dass das männliche Publikum ebenso erleichtert ist über facettenreichere Rollenbilder wie das weibliche über Figuren wie Lydia Tár oder Amy Dunne aus «Gone Girl». Letztere ist die Antiheldin aus dem Thriller von David Fincher, basierend auf dem Roman von Gillian Flynn. Hinsichtlich Geschlechterklischees ist dieser Film ein besonders spannender aus der Filmpodium-Reihe, weil er das Publikum seinen eigenen Erwartungen auf den Leim gehen lässt. Die gewohnten Bilder von Opfer und Täter werden übermalt. «Gone Girl» zeigt: Das Verharren in Klischees bedeutet, sein Publikum nicht ernst zu nehmen.
Figuren wie diese Amy Dunne, wie Catherine Tramell aus «Basic Instinct» oder etliche, die Charlize Theron gespielt hat, in «Monster» bis «Mad Max», handeln autonom und sind deshalb auf andere Art «unlikeable» als solche wie etwa Mabel (Gena Rowlands) aus dem Drama «A Woman Under the Influence» (1974) von John Cassavetes. Sie ist psychisch krank und deshalb machtlos und zum Bemitleiden da.
Was kümmert uns das alles, es ist ja nur Kino, könnte man denken. Das Problem ist aber: Der Einfluss der Pop-Kultur, gerade von Filmen, ist enorm. Jüngst sei die Nachfrage nach Massanzügen gestiegen, weil auf Netflix «The Gentlemen» angelaufen ist. Gut möglich, dass die aufgepumpten Muskeln, die man seit geraumer Zeit überall sieht, mit dem Kino zu tun haben, mit dem die trainierende Generation aufwuchs. Superman von 1978 ist neben Thor, Batman oder den Kerlen aus der «Fast & Furious»-Reihe von heute ein schmächtiger Knabe.
Laut und unwählbar
Wie wirksam dieses kulturell geprägte «good girl» ist, daran erinnert immer wieder der Umgang mit Frauen des öffentlichen Lebens. Wie viel es zu reden gab, als Sanna Marin, die ehemalige finnische Ministerpräsidentin, beim Feiern gefilmt wurde. Während des Wahlkampfs von Hillary Clinton gegen Donald Trump wurde viel darüber geschrieben, wie uralte tradierte Bilder von lauten Frauen als Furien, die als emotional und darum als unglaubwürdig gelten, den Hass erklären könnten, der ihr entgegenbrandete und sie für die Mehrheit unwählbar machte. Auffällig ist: Dominant aufzutreten, laut und eine «unlikeable bitch» zu sein wie im Film, schadet Rechtsaussen-Politikerinnen nicht.
Seit die Streaming-Firmen mit ihren Detektivinnen und Mörderinnen wie Villanelle aus «Killing Eve» eine Marktlücke entdeckt hatten, haben sie den Boden bereitet für Figuren jenseits von Klischees, komplex wie Männer, nicht einfach nur «stark». Alles gut also? Noch nicht. 2022 zog sich Apple TV+ von einer Serie zurück, an der Sofia Coppola und Florence Pugh seit vier Jahren gearbeitet hatten. Es hätte die Adaption von Edith Whartons Roman «The Custom of the Country» von 1913 werden sollen. Die Begründung der «Dudes von Apple», wie Coppola sie im «New Yorker» nannte: Die Hauptfigur sei nicht sympathisch genug.
(Am 6.7.2024 der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Warner Bros.)