Steven Spielbergs nie überwundenes Trauma

Steven Spielberg ist der erfolgreichste Filmemacher der Welt. Das Rezept des Autodidakten: Unterhaltung. Sein Thema: der abwesende Vater. Nun hat er seine Kindheit in «The Fabelmans» verarbeitet.

Zum Glück ist Steven Spielberg nie zum Psychiater gegangen. Sonst gäbe es keinen «E. T.», keinen «Indiana Jones», keine lieben Aliens wie in «Close Encounters of the Third Kind». Andererseits würden Millionen von Menschen weiterhin unbekümmert im offenen Meer schwimmen, weil «Jaws» den Ozean für sie nicht in einen Abgrund der Angst verwandelt hätte.

Wenn Spielberg eine Psychoanalyse gemacht hätte, dann gäbe es diese Filme nicht, mit denen er, wie er selbst sagt, einfach nur sein Publikum unterhalten will. Er wurde zum erfolgreichsten Filmemacher der Welt – sein Vermögen wird auf vier Milliarden Dollar geschätzt -, weil er gar nicht erst den Anspruch erhebt, hohe Kunst zu machen. Seine Geschichten sind klassisches amerikanisches Erzählkino, von technischer Brillanz, inhaltlich ohne doppelten Boden, und sie handeln fast immer von Vätern und ihren Kindern in kriselnder Beziehung: In «E. T.» und «Indiana Jones and the Last Crusade» ist der Vater der Abwesende. In «Close Encounters» oder «The Color Purple» der Verrückte oder Bösartige. In «Jaws», «Hook» oder «War of the Worlds» wird er nach einer Bewährungsprobe zum Retter.

Die zerbrechende Familie, weil der Vater sie verlässt: Das ist Steven Spielbergs nie überwundenes Trauma. In seinem neusten Werk «The Fabelmans», das am 9. März in die Kinos kommt, erzählt er wenig fiktionalisiert davon, wie er als Teenager dahinterkam, dass seine Mutter Mitzi (Michelle Williams) in den besten Freund seines Vaters (Paul Dano) verliebt ist, und wie der Vater sie schliesslich gehen und glücklich sein lässt.

«The Fabelmans» ist aber auch eine Geschichte über den Mythos Steven Spielberg. Davon, wie sein erster Kinobesuch das in ihm schlummernde Talent weckt: Nachdem Sammy – Spielbergs Alter Ego – in «The Greatest Show on Earth» eine Kollision zwischen einem Auto und einem Zug gesehen hat, spielt er das Desaster mit seiner Modelleisenbahn immer wieder nach. Er filmt es mit der Kamera, die seine Mutter ihm gibt. «Er muss die Kontrolle über dieses Erlebnis zurückgewinnen», erklärt Mitzi ihrem Mann.

Von Kontrolle spricht Steven Spielberg seit Beginn seiner Karriere in Interviews. Filme machen, um seine Ängste zu kontrollieren, das sei sein Antrieb. Der unheimliche Baum vor dem nächtlichen Fenster, vor dem er sich als Kind so fürchtete, ist ein wiederkehrendes Motiv. Auch «The Fabelmans» ist ein Versuch, die Kontrolle über einen Moment der Hilflosigkeit zurückzugewinnen: Sammy kann dem Vater nicht verzeihen, dass er geht. Das konnte auch Steven nicht, der 15 Jahre lang kaum mit ihm kommunizierte. Bis sich herausstellte, dass es die Mutter gewesen war, die sich scheiden liess, und der Vater es aus Liebe zu ihr auf sich genommen hatte, für die Kinder der Bösewicht zu sein. So die Legende, die «The Fabelmans» transportiert und die Spielberg selbst immer wieder so erzählt. «The Fabelmans» ist ein typischer Spielberg-Film. Es geht um eine Familie, ein Vorstadtidyll in der Vergangenheit, es gibt pathetisch-sentimentale Motivationsdialoge und ein erbauliches Ende. Auch wenn Sammy zu Hause leidet und in der Schule von antisemitischen Schülern gehänselt wird, am Ende hat seine Mühsal einen Sinn: Sie macht ihn zum Filmemacher.

Spielbergs Helden haben oft etwas Düsteres an sich, aber trotzdem handeln seine Filme immer vom absoluten Glauben ans Gute im Menschen. Und ans Ideal der Demokratie, worauf er mit seinen Historiendramen wie «Lincoln» oder «Bridge of Spies» beharrt. Bei ihm dient der Konflikt der Versöhnung und dem Happy End, nicht dem Diskurs. Eskapismus ist seine Leidenschaft. Manche nennen ihn deshalb ein Genie, andere belächeln ihn, diesen Märchenonkel. Spielberg kümmert das nicht. Er will dem Publikum das geben, woran auch er Spass hat.

Nach der Reihe seiner berühmt gewordenen Sommer-Blockbuster unternahm Spielberg 1985 mit «The Color Purple» seinen ersten Versuch, einen «erwachsenen» Film zu drehen. Es geht um Celie (Whoopi Goldberg), eine junge Frau, die von ihrem gewalttätigen Vater, von dem sie zwei Kinder hat, in die Arme eines gewalttätigen Ehemanns getrieben wird. Es ist ein Leben voller Leid. Aber Spielberg wäre nicht Spielberg, hätte er den Roman von Alice Walker nicht trotzdem in gute Unterhaltung verwandelt und auf die positive Botschaft geachtet. Sein zwanghafter Glaube ans Gute wirkt bei einer Geschichte über eine Frau, die ihr Leben lang um ein Minimum an Autonomie gekämpft hat, fast zynisch.

Hitchcock wies ihn weg

Steven Spielberg, 1946 in Cincinnati, Ohio, geboren, ist ein Autodidakt, Fernseher und Kino waren seine Lehrer. Seine Bewerbung an der Filmschule der University of Southern California schlug wegen schlechter Noten fehl. Weil er wusste, seit er «Lawrence of Arabia» gesehen hatte, dass das Filmen seine Bestimmung ist, fing er als 21-Jähriger an, jeden Morgen in Anzug und Krawatte, mit einem Aktenkoffer in der Hand, auf das Gelände von Universal Studios zu spazieren. Während ein paar Monaten tat er so, als sei auch er einer dieser wichtigen Männer, die hier ein und aus gingen. Er bezog ein leeres Büro, lungerte an Filmsets herum, machte Notizen und fragte Autoren und Regisseure aus. Nur bei Hitchcock wurde er weggewiesen, nicht ein einziges Wort konnte er mit seinem Idol wechseln.

Eine Anstellung bekam Spielberg schliesslich, nachdem der Co-Präsident von Universal, Sidney Sheinberg, seinen Kurzfilm «Amblin» gesehen hatte, den Universal ihn drehen liess. Sheinberg bot ihm an, die nächsten sieben Jahre bei Universal fürs Fernsehen zu arbeiten, als Regisseur, Autor und Produzent. Ein Volltreffer für den Besessenen. Sein erster Job war es, Regie zu führen beim TV-Anthologiefilm «The Night Gallery», und zwar mit der gefürchteten Joan Crawford. Doch statt ihn fertigzumachen, unterstützte sie den Neuling auf dem Set. Später soll sie gesagt haben, es sei offensichtlich gewesen, dass sie es da mit einem grossen Talent zu tun gehabt hätten.

Spielbergs erster Spielfilm, «Duel» (1971), war ein Fernsehfilm. Dass er ins Kino kam, verdankt er der Londoner Filmkritikerin Dylius Powell. Sie sei begeistert gewesen davon, gab er in Interviews zu Protokoll, also habe sie alle ihre Londoner Kollegen zu einem Screening eingeladen. Und als auch diese den Film lobten, brachte Universal die Geschichte über einen unbescholtenen Mann, der in seinem Auto von einem böswilligen Truck verfolgt und bedrängt wird, in Europa in die Kinos. Spielberg sagt, mit «Duel» habe er das Gehänseltwerden an der Highschool verarbeitet.

Obwohl er Autodidakt war, gehörte Spielberg trotzdem bald zum Kreis von Absolventen von Kaliforniens Filmschulen. Die bekanntesten sind George Lucas und Martin Scorsese. Francis Ford Coppola, der sein Geld bereits mit Drehbüchern verdiente, war das grosse Vorbild für die «Movie Brats», wie sie sich nannten. Manche blieben einander treu. Spielberg gründete mit Kathleen Kennedy seine Produktionsfirma Amblin Pictures, die «Cape Fear», «The Goonies» oder «Back to the Future» herausbrachte. Melissa Mathison, die «E. T.» und «The BFG» schrieb, war mit Harrison Ford verheiratet, Spielbergs «Indiana Jones».

Im Dienst des Publikums

Heute wird Spielberg zu den Filmemachern des New Hollywood gezählt, jener Bewegung Ende der sechziger bis Anfang der achtziger Jahre, die das klassische Hollywoodkino überwand. Damals steckten die Studios in Musicals und Sandalenfilmen fest, aber das Kinopublikum interessierte sich viel mehr für das europäische und asiatische Filmschaffen. Also stellten Studios junge Filmemacher an, die solches Kino herstellen sollten, und liessen ihnen viele Freiheiten dabei. Es entstanden Klassiker wie «Bonnie and Clyde», «The Graduate», «Dog Day Afternoon», «Taxi Driver».

Und dann wurde «Jaws» 1975 zum riesigen Hit. Seither heisst es, Spielberg habe den Blockbuster erfunden. Auch weil er danach mit seinem guten Freund, dem «Star Wars»-Regisseur George Lucas, das erste «Indiana Jones»-Abenteuer herausbrachte. Solche Grosserfolge trugen dazu bei, dass sich bald wieder massiv Geld verdienen liess mit Kino und die Studios neue Macht erlangten. Ob es gerechtfertigt ist, Spielberg zu New Hollywood zu zählen? Von Schauspieler Richard Dreyfus ist überliefert, wie er eines Nachts von Spielberg wachgehalten wurde, weil dieser ihm erzählte, wie er «Jaws» auch noch hätte drehen können. Als Kunstfilm statt als Thriller. Aber dass er das nicht wollte. «Ich wollte immer dem Publikum dienen», sagt Spielberg in vielen Interviews.

In den letzten Jahren hat Spielberg immer öfter historische Stoffe bearbeitet. «Munich» erzählt von Mossad-Agenten, die nach dem Attentat bei den Olympischen Spielen in München die palästinensischen Drahtzieher töten sollen. Der Held ist ein junger Mann, dessen schwangere Frau darauf hofft, er möge unversehrt von seiner Mission zurückkehren. In «Lincoln» erzählt er von seinem persönlichen Polithelden, den er, klar, auch als liebevollen Vater porträtiert. In «Bridge of Spies» verhandelt ein Jurist (Tom Hanks) besser mit den sowjetischen Feinden, als es die US-Regierung je hinbekäme.

Trotz Spielbergs historischem Interesse ist «The Fabelmans» seltsam geschichtsvergessen. Wie sehr ihn die Realität aber bereits als kleines Kind geprägt hatte, davon erzählt er jetzt in Interviews, die er gibt – taktisch auf die Oscars hin, wie in Hollywood gemunkelt wird. Er spricht über den Holocaust, den manche seiner Familienmitglieder überlebt haben. Vom Vietnamkrieg, vor dem er und seine Freunde panische Angst hatten, weil sie im richtigen Alter waren, um eingezogen zu werden. Oder von seiner Irritation als Bub über die erwachsenen Männer, die einander im Wohnzimmer schluchzend in den Armen lagen, wenn sie seinen Vater besuchten. Es waren Veteranen des Zweiten Weltkriegs. In «Saving Private Ryan» meint man das Echo solcher Gespräche zu hören. Das Drama zeigt das absolute Grauen bei der Invasion in der Normandie 1944, doch Captain Miller (Tom Hanks) und seine Soldaten sind nicht nur dort, um Feinde zu töten, sondern um Soldat Ryan als letzten überlebenden von vier Söhnen zu seiner Mutter zurückzubringen.

Holocaust und Saurier

Spielberg arbeitet sich ab am Zweiten Weltkrieg, sein Blick auf die vierziger Jahre wirkt dabei merkwürdig verklärt. Das Jahrzehnt habe etwas Naives und Unschuldiges gehabt, sagt er: Es sei ein fruchtbarer Boden für Geschichten. Den Vietnamkrieg, traumatisch für sein Heimatland, von dessen Grösse er mit Inbrunst predigt, überlässt er anderen. Einen so dunklen Film wie «Apocalypse Now» von Francis Ford Coppola würde Spielberg niemals drehen.

Sein dunkelstes Werk ist «Schindler’s List» (1993). Es markiert eine Zäsur in seinem Werk, weil er seither endlich ernst genommen wird. Es ist ein dunkler, aber polierter Film, weil Spielberg die Grausamkeit den Sehgewohnheiten seines Publikums gemäss inszeniert. Die Hauptfigur ist diesmal kein Abtrünniger, sondern ein Mann, der zur verkörperten Hoffnung wird. «Liam Neeson als Oskar Schindler ist die romantischste Figur, mit der ich je gearbeitet habe», sagt Spielberg. Und Jeffrey Katzenberg, der damals die Walt Disney Studios leitete und um Spielberg buhlte, meinte, «Schindler’s List» werde «die Menschen darin beeinflussen, wie sie denken und handeln. Ich will dem Film nicht zu viel aufbürden, aber ich glaube, er wird den Weltfrieden bringen.» Im gleichen Jahr wie «Schindler’s List» brachte Spielberg auch «Jurassic Park» heraus, den Abenteuerfilm mit den computeranimierten Sauriern.

Seit Spielberg 1971 das Gelände von Universal betreten hat, lebt er in einer Welt der Phantasie, in die er die Realität nach seinem Gutdünken einwebt. Kathleen Kennedy, seine langjährige Produzentin, sagte einmal über ihn, er habe Mühe mit zu viel emotionaler Nähe. «Er baut sich lieber seine eigene Welt zusammen, als sich mit der Realität zu befassen.» In den letzten Jahren hat Spielberg, ein leidenschaftlicher Gamer, sich immer mehr von der Gegenwart entfernt. Nach «Ready Player One» – einem Film über einen Gamer und überfüllt mit Referenzen auf die Pop-Kultur der achtziger Jahre – brachte er ein Remake von «West Side Story» ins Kino, und jetzt wühlt er mit «The Fabelmans» in seiner eigenen Geschichte. Man sagt, je älter Menschen würden, desto mehr neigten sie dazu, sich nostalgisch in ihrer Kindheit zu verlieren. Spielberg hat seine nie verlassen.

(Am 4.2.2023 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Universal Pictures)