Am 6. April 1994 schiessen Unbekannte das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana ab. Es gibt keine Überlebenden. Eine halbe Stunde später gibt es in der Hauptstadt Kigali die ersten Morde an Tutsi. 100 Tage später hatten die Hutu je nach Quelle 800 000 bis eine Million Menschen abgeschlachtet, 75 Prozent aller Tutsi. Die Täter kommen aus der Armee, der Verwaltung, der Nationalpolizei, der Präsidentengarde.
Justine R. Mbabazi, eine Tutsi, versteckt sich zu der Zeit mit ihren Kindern irgendwo in einer Höhle. Ihr Vater, ihr erster Ehemann und sieben ihrer acht Geschwister werden ermordet, die Mutter stirbt in einem anderen Versteck. «Während der Nacht konnte ich mich jeweils ein wenig entspannen», sagt sie heute. «Aber ich hatte jedes Mal Angst vor dem Sonnenaufgang. Dann könnten sie uns entdecken und töten.» Geweint habe sie nie. «In Ruanda waren Tränen sinnlos.»
Überleben in der Heimat
Justine Mbabazi, heute eine renommierte Friedensaktivistin und international tätige Juristin, wurde 1964 als Kind von ruandischen Flüchtlingen in Uganda geboren. Ihre Eltern waren 1959 vor dem ersten ruandischen Bürgerkrieg geflohen. «Ich war ein Kind ohne Heimat und ohne Identität», sagt sie. Als Justine elf war, verliess sie ihre Familie und kehrte zurück in ein Heimatland, das sie noch nie gesehen hatte. Sie wollte darum zurück, weil sie in Ruanda bessere Chancen auf eine Ausbildung hatte als in Uganda. Unter den Nomaden, wo sie lebte, gab es keine Schule. «Kinder, die etwas lernen wollten, fanden sich unter einem riesigen Baum zusammen. Dort brachte man uns Lesen und Schreiben bei. Manchmal war die Bibel das einzige Buch, das wir zum Üben hatten.» Kaufleute schmuggelten das Mädchen über die Grenze, sie lebte bei einer Tante und konnte nur darum auf eine richtige Schule gehen, weil gefälschte Dokumente sie als Hutu auswiesen. Sie musste mehrmals eine neue Identität annehmen, damit sie überhaupt überleben konnte.
«Ich kann sehr gut nachvollziehen, was die syrischen Kinder heute durchmachen», sagt sie. «Als Flüchtlingskind hast du keine Ahnung, was mit dir geschieht, du weisst nichts über die Politik, die schuld ist an deiner Situation. Und schon gar nicht, was ein gutes Leben sein könnte.» Irgendwann habe sie verstanden, dass es nicht ihr Fehler war, dass sie ein Flüchtling war, und sie auch nicht als Einzige so lebte. Justine beschloss, etwas aus ihrem Leben zu machen, damit ihre Kinder nicht dasselbe würden erleben müssen wie sie.
Nach dem Genozid gehörte sie zu den Frauen, die das Land wieder auferstehen liessen: «Wir bauten die Wirtschaft auf und putzten auch Strassen. Wir sorgten für Wohnraum, für ein Gesundheitssystem, Bildung, funktionierende Gerichte, Sicherheit.» Wie viele andere Frauen nahm Justine mehrere Waisenkinder in ihre Obhut. «Ich wusste, dass es Hoffnung gab, als ich gesehen habe, wie viele Frauen – traumatisiert und hungrig – Waisen aufnahmen und sie wie ihre eigenen Kinder behandelten.» Drei Jahre nach dem Massaker verliess Justine Mbabazi Ruanda und beantragte Asyl in Kanada, wo sie heute noch lebt. Sie arbeitete auf der Einwanderungsbehörde und studierte weiter, strebte den Master in Gender Studies an, 2004 doktorierte sie am Washington College of Law. Im Buch «This Is Your Time, Rwanda» verarbeitete sie den Horror des Genozids. Sie arbeitete als Friedensaktivistin und war in vielen Krisengebieten dieser Welt aktiv: in Burundi, Afghanistan, Pakistan, dem Südsudan. Als Beraterin für Ruandas neue Abgeordnete war sie während sieben Jahren massgeblich daran beteiligt, dem Land eine neue Verfassung zu geben. Eine, die Frauen die gleichen Rechte gibt wie Männern.
«Frauen waren nicht nur die Opfer des Genozids, sie waren auch die Opfer von Diskriminierung», sagt sie. Die Überlebenden durften beispielsweise kein Land erben, weder vom Vater noch vom Ehemann. Am wichtigsten waren Gesetze gegen geschlechterspezifische Gewalt, Familien- und Erbrecht, ein Ausbildungsgesetz, das Mädchen und Jungen gleichwertig behandelt. Heute ist Ruandas Legislative zu 64 Prozent weiblich. Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Frauen in einem Parlament. «Aber uns geht es nicht um Quoten», sagt sie. «Wir wollen das Leben der Menschen verbessern.» Es geht auch nicht um Parteiprogramme. Sie nehmen sich der Themen an, die sie betreffen: Bildung, Arbeit, Armut, Diskriminierung, Ungleichheit, sexuelle und häusliche Gewalt, Gesundheit, Sicherheit. Die Liste ist endlos.
In Ruanda sieht man den Einfluss der Frauen als etwas Positives, sie werden nicht abgelehnt oder belächelt. Justine Mbabazi findet nicht, dass Frauen anders politisieren als Männer. «Aber ich glaube, Frauen arbeiten besser zusammen. Für uns ist es normal, zu helfen, Ratschläge zu erteilen und auch einzuholen. Für Männer ist es ein Zeichen der Schwäche, jemanden um Rat zu fragen. Wenn eine Frau eine politische Entscheidung treffen soll, sagt sie, ‹wir› suchen nach einer Lösung. Ein Mann sagt vor allem ‹ich›.»
Frauen müssen aktiv werden
Justine Mbabazi hat viel erreicht. Doch sie bleibt skeptisch, was die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern angeht: «Ich habe in 23 Jahren als Juristin und Aktivistin mit 15 transnationalen Regierungen zu Geschlechtergerechtigkeit, Demokratie, politischer Partizipation, Menschenrechten gearbeitet. Aber ich sage Ihnen: Es hat sich wenig getan in Sachen Geschlechtergerechtigkeit. Selbst in den fortschrittlichsten Ländern!» Wir müssten endlich einsehen, dass wir alle gleich seien, «vor Gott und dem Gesetz». Frauen rund um den Globus haben immer noch Angst vor Diskriminierung, Ungerechtigkeit, häuslicher und sexueller Gewalt. «Wenn jeder Mensch in Würde, Freiheit und ohne Angst leben könnte – das wäre wahrer Fortschritt.» Wenn sich etwas verändern solle, müssten Frauen aktiv werden. «Wer sich lokal engagiert, kann global etwas bewirken.»
Justine Mbabazi glaubt, dass Geschlechtergerechtigkeit nur zu erreichen ist, wenn Frauen von der Öffentlichkeit als Verfechterinnen des Fortschritts und nicht nur als die Schwächeren angesehen werden. «Frauen müssen endlich international etwas zu sagen haben. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass es zum Normalfall wird, dass wir mitdiskutieren.» Es müsse normal werden, dass die Stimme einer Frau gleich viel Wert hat wie die eines Mannes. Dann, glaubt Justine, wird ein Leben in Frieden und ohne Angst endlich möglich.
Erschienen im Züritipp am 24. Mai 2016 (Bild: illuminessencemag.com)