«Tatort»? Bitte abschaffen!

Zu erwartbar, zu mutlos, aber trotzdem ist der «Tatort» immer noch das beliebteste Krimi-Format im deutschsprachigen Fernsehen. Doch der prominente Sendeplatz hat Besseres verdient.

«Dieses Format sollte eingestampft, es sollte einfach mal etwas Neues erfunden werden», sagt der Regisseur Edward Berger. Der Oscar-Gewinner aus Berlin hat zweimal einen «Tatort» gedreht, aber seit zehn Jahren mache er das aus Prinzip nicht mehr: «Es ist immer dasselbe. Am Anfang gibt es eine Leiche, dann ein paar Verdächtige, die Ermittler stampfen durch die Gegend, stellen ihre Fragen, und am Ende haben wir den Mörder. Was soll das?» Er nennt «Tatort» «ein Sinnbild des Konservatismus und eine Bremse für Neuentwicklung».

Genügend andere mögen aber genau das, und darum lebt diese Reihe seit ihrer Erfindung 1970 immer weiter und weiter und weiter. Wenn Polizei und Staatsanwaltschaft am Sonntagabend ihren Dienst getan, die Bösen eingesperrt und die Ordnung wiederhergestellt haben, schläft es sich doch besonders gut. (Am häufigsten sind Unternehmer und Manager die Mörder, so hat der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft erhoben.)

«Tatort» ist mit knapp neun Millionen Zuschauern, Tendenz leicht sinkend, die erfolgreichste Krimireihe des deutschsprachigen Fernsehens. Aber die Staubschicht liegt dick darauf. Und sie wird immer noch dicker, seit «Nordic Noir» und die zahllosen True-Crime-Serien der Streamingdienste eine neue Ästhetik und eine komplexere Dramaturgie für Fernsehkrimis etabliert haben. «Tatort» wirkt fast immer wie die Migros-Budget-Version davon. Und der Inhalt so, als ob eine «Tatort»-Checkliste abgearbeitet werden müsste. Die Filme sind oft derart flach, dass man sich im Kollektiv über die Drehbücher gruselt statt über deren Inhalt.

Ringen mit den Sendern

Wenn man Regisseure und Autorinnen fragt, was das Problem sei, dann räumen sie erstaunlich freimütig ein: Die Drehbücher seien zu oft nicht ausgereift. Man sei gefangen im Korsett des Formats, das Erwartungen zu erfüllen habe, und daraus auszubrechen, sei schwierig. Die Redaktionen unterschätzen ihr Publikum und fürchten negative Reaktionen. Und es gebe zu viele Klischees. «In einigen Fällen mag es daran liegen, dass viele Krimifilmautoren mit hohem Output zwar gute Handwerker sind, aber wenig Feingefühl für Psychologie und Figuren haben», sagt die Schweizer Filmemacherin Christine Repond. «Da wird vor allem der ‹spannende› Plot gebaut, und die Figuren müssen das bedienen, was dieser vorschreibt.»

Es ist nicht verwunderlich: Jene Folgen, die zu den besten gehören, haben Kämpfe mit den Fernsehredaktionen hinter sich. So wie «Schattenkinder» von Christine Repond, nach wie vor der beste aller Schweizer «Tatorte», oder auch «Ich hab im Traum geweinet» von Jan Bonny. «Das war ein wildes Stückchen», erzählt der Regisseur in einer Kneipe in Berlin. Bonny pflegt in seinen Filmen einen rohen Realismus, auch beim «Tatort». «Es war ein Ringen mit SWR. Aber sie waren immer konstruktiv, auch wenn sie manche Wunden geleckt haben.»

Ein Aufreger war, so erzählt er, dass die Kommissare Franziska Tobler und Friedemann Berg miteinander schlafen. «Das hat gewaltige Reaktionen gegeben. Das sind absolute Figuren wie die eigenen Eltern. Die will man dabei auch nicht sehen.» Und dann tun sie es auch noch betrunken und ungeschützt. Als Staatsangestellte!

Auch Christine Reponds «Schattenkinder» wäre nie entstanden, hätten die Regisseurin und die Autorinnen Stefanie Veith und Nina Vukovic ihren Stoff nicht noch durch ein Gespräch gerettet. Die SRF-Redaktion meinte, solche Bilder könne man dem Publikum nicht zumuten. Also erklärten die Macherinnen nochmals, es gehe ihnen nicht darum, das Publikum zu schockieren, sondern um eine Geschichte über Jugendliche, die gegen ihre Eltern rebellieren, weil sie von diesen schlecht behandelt werden. Sie rebellieren mit drastischen Mitteln, rasieren sich den Schädel und lassen sich tätowieren, auch im Gesicht und in den Augen.

Repond und ihr Team setzten sich durch. Aber mit dem Nachfolgeprojekt «Risiken mit Nebenwirkungen» gelang es ihnen nicht. Die Besetzung der Redaktion hatte sich geändert.

«Dieses Buch wurde zurechtgestutzt», sagt die Autorin Stefanie Veith. «Was übrig blieb, war so banal, dass man gar nicht mehr merkt, was wir bei unserer ausführlichen Recherche über die Pharmabranche alles herausgefunden hatten», sagt sie. Das muss der Redaktion zu riskant gewesen sein. «Wir mussten seitenlang belegen, dass die Dinge auch so sein könnten, wie wir sie aufgrund unserer Recherche beschreiben». Wenn man nur Bedenken höre, statt Vertrauen in die Geschichte zu bekommen, dann frage man sich irgendwann, ob der Aufwand noch verhältnismässig sei.

Am Anfang stand eine Idee, zu der auch ein Bombenanschlag und ein Auftragsmörder gehört hätten. Doch SRF befand: zu unrealistisch. «Ideen mögen anfänglich vielleicht übertrieben wirken», sagt Veith. «Aber wenn man ihnen keinen Raum gibt, sie gleich ablehnt oder alles herausnimmt, was den Stoff besonders macht, bleibt nichts übrig, was faszinieren könnte.»

Ein guter Film entstehe immer im Konflikt, sagt Jan Bonny, der den «Tatort» irgendwie mag. Die besten Redaktionen seien jene, die «mit dem Problem arbeiten, dass es Erwartungen ans Format ‹Tatort› gibt, aber auch Lust aufs Experiment haben», meint er.

Aber selbst wenn einzelne Sender einmal etwas Drastisches wagten, das Publikum wolle lieber Rätselspass, nicht Ernsthaftigkeit, vermutet Stefanie Veith. Etwa so, wie ihn der «Tatort» aus Münster von vergangenem Sonntag bot. Da wurde das Morden, man kann es nicht anders sagen, zum Mordsspass, kommentiert von peinlich saloppen Sprüchen dieses entsetzlich infantilen Boerne (Jan Josef Liefers).

Dass Menschen vergiftet, erschossen, erschlagen, verstümmelt, vergewaltigt werden, nimmt man hin. Aber dass rebellierende Jugendliche sich Gesicht und Augen tätowieren, wie in «Schattenkinder» – das ging zu weit? «Wir erzählen von Morden. Für mich fühlt es sich nicht ehrlich an, diese Gewalttaten möglichst leicht konsumierbar darzustellen», sagt Stefanie Veith.

Dieses Ausklammern von Psychologie, dieses Trivialisieren von Gewalt, weil «Tatort» am Anfang nun mal eine Leiche braucht, ist auch ein Grund für all die eindimensionalen Figuren: Diese agieren nicht aus sich selbst heraus, angetrieben von nachvollziehbaren Ängsten, Mut oder Sehnsüchten, sondern sie steuern nur den Plot. «So eine Figur wird zwangsläufig zu einer Oberfläche», meint die Regisseurin Christine Repond.

Was ist ARD?

Trotzdem kann man nicht sagen, der «Tatort» sei schlecht, weil es den «Tatort» nicht gibt. Dafür arbeiten zu viele verschiedene Redaktionen von Norddeutschland bis nach Zürich daran, und es sind zu viele verschiedene Produktionsfirmen und Filmschaffende daran beteiligt. Es ist noch schlimmer. Jan Bonny bringt es auf den Punkt: «Der ‹Tatort› unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom deutschen oder vom Schweizer Film. Hier wie dort gibt es recht viele harmlose, ärgerliche Filme und dazwischen ein paar wenige sehr gelungene.»

Eigentlich wäre der Polizeifilm ein schönes Genre, und sowohl «Tatort» wie auch «Polizeiruf» (die DDR-Version des «Tatorts») eine Gelegenheit für Autorenfilme, meint er: «Der Ermittler kommt überall rein, eröffnet dadurch Welten und ist mit existenziellen Nöten befasst.» Aber nur die wenigsten wissen so damit umzugehen wie Christian Petzold und Dominik Graf.

«Tatort» läuft leider zu gut, um abgeschafft zu werden. Auch die grosse Erneuerung wird nicht eintreten. Gemäss ARD ist «Tatort» «eine Bank für traditionelle Zuschauerinnen und Zuschauer», aber auch «offen für neue filmische Einflüsse». Man weiss, dass man ein junges Publikum ansprechen muss. Aber wie?

«Wenn ich Teenagern sage, ‹Tatort› läuft auf ARD, dann wissen die gar nicht, was das ist», erzählt Stefanie Veith. «Sie kennen die Mediathek nicht und sind erstaunt, dass man dort Serien ohne Abo sehen kann.» Also löst sich das Problem irgendwann von allein. Denn mit zu tiefen Einschaltquoten können öffentlichrechtliche Sender ihre Gebühren nicht rechtfertigen.

Es gäbe auch längst Besseres: Das jüngste Beispiel ist die Anthologie-Serie «Zeit Verbrechen», die an der Berlinale Premiere feierte. Sie basiert auf dem gleichnamigen Podcast von «Die Zeit», wurde koproduziert von Paramount+, aber dann aus Spargründen aus dem Programm gestrichen. Sollte «Zeit Verbrechen» keinen neuen Sendeplatz finden, wäre viel verloren: vier Autorenfilme, einer davon besetzt mit Sandra Hüller, ein anderer mit Lars Eidinger.

Es sind weniger Krimis als vielmehr Thriller, weit entfernt von Klischees, sowohl in ästhetischer wie dramaturgischer Hinsicht. Entsprechend fordernd sind sie fürs Publikum. Nichts ist so, wie man es erwartet. Nichts ist so, dass man danach zufrieden einschlafen könnte – wie nach (oder während) dem guten alten «Tatort».

 

 

(Am 23.3.2024 der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Getty)

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