Twitter zwingt die Oscars in die Knie

#OscarsSoWhite hat die Academy in eine Identitätskrise gestürzt. Dank Protesten auf Social Media verlieren Auswahlkomitees von Filmpreisen ihre Autorität. 

«I don’t care anymore», sagte Ricky Gervais in seiner Eröffnungsrede an den diesjährigen Golden Globes am 5. Januar. Die Globes seien ihm nicht nur deswegen egal, weil er sie das letzte Mal moderiere. Sie hätten ihn noch nie interessiert. Schockierte Blicke im Publikum, das es gewohnt ist, bei Filmpreisen gefeiert zu werden. Besonders bei den heute Sonntagnacht zu vergebenden Oscars.

Gervais, der britische Komiker, sprach aus, was viele denken: Wie überholt, scheinheilig und langweilig diese stundenlangen Preisverleihungen inzwischen sind. Weil sie dafür da sind, das (amerikanische) Kino zu feiern, wirken sie auch zunehmend irrelevant im Zeitalter von Netflix und anderen Streaminganbietern, die derzeit das Filmgeschäft umkrempeln. «All die guten Schauspieler sind zu Netflix gegangen. Die, die noch Hollywoodfilme drehen, machen Fantasy-Adventure-Nonsense», stichelte Gervais weiter. Tom Hanks zog vor lauter Entsetzen über die Anmassungen des Moderators so komische Gesichter, dass Videoclips davon wenig später auf Social Media die Runde machten.

Social Media – das ist der Ort, wo man sich diesen Preisverleihungen heute widmet, nicht mehr das Fernsehen: Die Golden Globes hatten noch nie so tiefe Einschaltquoten, und auch bei den Oscars sind die Zuschauerzahlen seit Jahren sinkend. Sie gingen von den lange 40 bis 50 Millionen – sogar 55 Millionen 1998, als «Titanic» nominiert war – auf rekordtiefe 26,5 Millionen 2018 zurück. Letztes Jahr waren es mit 29,6 Millionen nur wenig mehr. Trotz der vielen Nominationen für den Blockbuster «Black Panther». Vor allem die jungen Menschen hätten immer weniger Interesse an der «Award Season», stellte die Branchenzeitung «Variety» fest. Die jüngeren Generationen sehen nicht mehr fern. Sie streamen Serien, sehen sich 15-Sekunden-Videos auf Tiktok an und informieren sich auf Twitter und via Whatsapp über das Geschehen in der Welt.

Wenn man am Tag nach den Verleihungen die Clips mit den wirklich interessanten Momenten auf Twitter, Facebook oder Instagram anklicken kann, warum sollte man sich eine stundenlange Preisverleihung im Fernsehen antun, die auch noch von Werbeblöcken unterbrochen wird? Warum die stereotypen Dankesreden der Gewinnerinnen und Gewinner erdulden, in denen sie ihre Teams «amazing» finden und «grateful» sind für die «wonderful opportunity»? Man weiss schon im Voraus, dass sie pflichtbewusst Donald Trump oder das sexistische Filmbusiness kritisieren – nachdem sie selbst jahrelang geschwiegen haben über das Tun von Harvey Weinstein.

Social Media machen aber nicht nur das Fernsehen überflüssig. Sie nehmen den grossen Filmpreisverleihungen auch den Zauber, den diese vor einigen Jahren für viele noch innehatten. Damals schaltete man ein, um seine Hollywoodlieblinge in glamourösen Roben und behängt mit ­teuerstem Schmuck bewundern zu können. Aber heute sind Stars auf Instagram und Twitter omnipräsent. Es gehört für sie zur Selbstvermarktung, auf diesen Kanälen aktiv zu sein. Viele Follower zu haben, kann inzwischen sogar die Chancen erhöhen, Rollen zu bekommen.

Dass Stars uns an ihrem Leben teilnehmen lassen, macht ihre glitzernde Aura der Unnahbarkeit durchlässig, hinter der wir sie früher wähnten. Heute verrät der «Moonlight»-Regisseur Barry Jenkins auf Instagram, in welchen Restaurants er isst. Man kann die politischen Statements seines kanadischen Kollegen Xavier Dolan kommentieren. Schauspielerinnen wie Reese Witherspoon und Nathalie Portman lassen uns an ihrem Privatleben teilnehmen, wobei kaum jemand so intime Einblicke gewährt wie die Komikerin Amy Schumer. Sie fotografierte sich beim Frauenarzt, nachdem ihr Eizellen entnommen worden waren, die sie einfrieren lässt. Natürlich inszenieren sich diese Stars, aber das tun auch wir. Indem wir unseren eigenen Narzissmus auf denselben Plattformen pflegen wie unsere Film- und Serienlieblinge, können wir uns diesen so nah fühlen wie noch nie. Sie ungekämmt und im Pyjama zu sehen, bedient unseren Voyeu­rismus viel effektiver als der Anblick der Stars in hübschen Roben auf dem roten Teppichen von Preis­verleihungen.

Die Oscars, die vorläufig noch prestigeträchtigste aller Filmpreisverleihungen, gehen dieses Jahr zum zweiten Mal in Folge ohne Moderator über die Bühne. Warum? Hat man Angst, auf Social Media lächerlich gemacht zu werden? Oder schon im Vorfeld auszuscheiden, wie der Schauspieler Kevin Hart, der sich letztes Jahr als Moderator zurückziehen musste, nachdem er auf ­Twitter massiv für frühere homophobe ­Äusserungen kritisiert worden war.

Dank Social Media, vor Trump noch das Megafon der Machtlosen, verlieren Institutionen wie die Oscar Academy zunehmend ihre Autorität. Es gibt keine grossen Filmpreise mehr ohne Hashtag-Proteste.

Academy in der Identitätskrise

Nachdem dieses Jahr bei den British Academy Film Awards (Bafta) nur Männer für «Beste Regie» und «Bester Film» und nur weisse Darstellerinnen und Darsteller nominiert wurden, gab es #BAFTAsSoWhite-­Proteste, eine Variation von #OscarsSoWhite. Dieser Hashtag, 2015 von der Aktivistin April Reign lanciert, war eine Art Weiterführung von #BlackLivesMatter. Beide um­fassten schnell Millionen von Tweets. Sie ­bereiteten den Boden für #TimesUpNow – für mehr Geschlechtergerechtigkeit im Filmbusiness –, und nicht zuletzt für #MeToo. Hashtag-Aktivismus ist nichts mehr, das man belächeln kann. Was auf Twitter, Facebook und Instagram geteilt und diskutiert wird, ist inzwischen wichtiger als das, was an den Preisverlei­hungen geschieht.

Die Oscar Academy reagierte auf #OscarsSoWhite und nahm mehr Frauen und sogenannte Minderheiten auf. Gebracht hat es wenig. Dass «Moonlight» 2017 das Musical «La La Land» vom Podest verdrängte, war zwar eine Sensation. Aber die Hoffnung, dass dies eine Zeitenwende markiere, verblasste schnell. Trotz der 32 Prozent Frauen und 16 Prozent nichtweissen Mitglieder waren 2018 die Nominierten schon wieder mehrheitlich weiss und männlich. Und 2019 gewann «Green Book» als «Bester Film», das scheinheilige Antirassismusdrama, in dem der weisse Protagonist wichtiger war als der schwarze.

Hollywood befinde sich seit #OscarsSo White in einer schweren Identitätskrise, konstatierte die «New York Times» angesichts der diesjährigen Nominationen. Diese sprechen für sich: Für die Academy ist es offensichtlich immer noch unvorstellbar, auch andere als nur weisse Männer als kreative Talente in Betracht zu ziehen. Man könnte diesen Umstand als ein letztes Aufbäumen der inzwischen zum Schlagwort verkommenen «alten weissen Männer» deuten, die verzweifelt nochmals ihre Macht demonstrieren müssen. Wahrscheinlicher ist, dass sich Academy-Mitglieder einfach nicht so sehr für Werke interessieren, die nichts mit ihrer eigenen Peergroup zu tun haben. Amy Pascal, Produzentin von «Little Women», sagte in einem Interview, da seien unbewusste Vorurteile am Werk: «Die Wähler sehen sich das an, was ihnen wichtig scheint.» Das ist dann halt «1917» und «The Irishman» und nicht «Little Women».

Kampagnen auf Twitter

Social Media haben unsere Wahrnehmung von der Welt verändert. Der nie abreissende Strom von breaking news, das Dramatisieren im Kampf um Aufmerksamkeit und die daraus folgende Polarisierung der Gesellschaft geben einem das Gefühl, in einer Zeit zu leben, in der einem jeden Moment alles um die Ohren fliegen könnte. Dieses die Realität beherrschende Gefühl der Verunsicherung lässt die Anwärter auf «Bester Film» und «Beste Regie», egal, ob bei den Golden Globes, Baftas oder jetzt den Oscars, umso weltfremder erscheinen: Die paar Filme, über die man seit Wochen fast pausenlos reden muss, frönen alle der Nostalgie.

Die Ausnahme ist «Parasite» von Bong Joon-ho, der sich mit der Kluft zwischen Arm und Reich auseinandersetzt, einem brennenden Thema unserer Zeit. Vielleicht ist es der persönlichen Twitterkampagne der Regisseurin Ava DuVernay zu verdanken, dass 2020 das erste Mal in der Geschichte der Oscars ein südkoreanischer Regisseur für «Bester Film» nominiert ist. Stars wie ­DuVernay greifen ins analoge Kampagnenmachen ein. Retweets und Shares ihrer Follower – sie hat 2,3 Millionen auf Twitter – können mehr Aufmerksamkeit generieren als teure Inserate, Spezialvorführungen und Partys, mit denen die Produktionshäuser bisher auf ihre Werke aufmerksam machten.

Für «The Farewell» von Lulu Wang war DuVernays Engagement weniger effektiv. Wang ist eine aus einer Reihe von Frauen, die dieses Jahr mit künstlerisch herausragenden und originellen Werken auf sich aufmerksam gemacht haben: Mati Diop, Greta Gerwig, Marielle Heller, Céline Sciamma, Lorene Scafaria, Melina Matsoukas oder Alma Har’el. Weil diese Talente ausgerechnet dieses Jahr kaum Beachtung fanden, hat Har’el auf Twitter zum Kampf aufgerufen. Sie schlägt vor, dass man bei den Oscars die Kategorie «Beste Regisseurin» einführt. Damit würde man die Academy dazu zwingen, sich die Werke von Regisseurinnen wenigstens anzusehen.

Eine bedenkenswerte Idee, denn das Filmgeschäft ist ein Geschäft der Aufmerksamkeit, und entscheidend ist, wer diese bekommt, besonders bei den Oscars. Wenn sie Newcomern wie Barry Jenkins oder 2010 Kathryn Bigelow gilt, bis heute die einzige Frau, die je bei «Bester Film» und «Beste Regie» gewonnen hat, wirkt die Preisverleihung wenigstens sinnvoll. Von den diesjährigen Nominierten, Quentin Tarantino, Sam Mendes und Martin Scorsese, hat diese Aufmerksamkeit kaum einer mehr nötig.

Es braucht noch viel mehr Hashtagproteste. Oder Humoristen wie Gervais, die es wagen, sich mit Hollywood anzulegen. Schade, moderiert er nicht die Oscars.


 

Erschienen am 8. Februar 2020 auf nzzas.ch

(Bild: EPA)