Und was glaubst du?

In «Der Unschuldige» gerät die Anhängerin einer Freikirche in Zweifel. Der Thriller geht aber über das Religiöse hinaus, weil es unter der Oberfläche um die grundsätzliche Frage geht: Wem oder was kann man glauben? Ein wilder und beunruhigend aktueller Film.

Als der Prediger der Freikirche seinen Anhängern verspricht, das sei «ihre Zeit mit Gott», und sie alle halb andächtig, halb ekstatisch dem Allmächtigen die Hände entgegenstrecken, muss Ruth (Judith Hofmann) kotzen. Das ist das erste Anzeichen dafür, dass ihr Leben aus der Balance gerät. Schuld daran ist der titelgebende «Unschuldige», Andi (Thomas Schüpbach). Er war Ruths grosse Liebe und musste vor 20 Jahren ins Gefängnis für ein Verbrechen, das er möglicherweise nicht begangen hat. Das glaubt zumindest Ruth. Seit er nun freigekommen ist, weiss sie nicht mehr, was sie glauben soll. Nicht nur in religiöser Hinsicht.

Ruth beginnt an der Realität zu zweifeln, von der man bald den Eindruck bekommt, die Neurowissenschaftlerin habe sich diese in der Hoffnung auf Geborgenheit und Sicherheit aufgebaut; zum Schutz vor ihrer inneren Unruhe und unbestimmten Wut, die jetzt immer mehr an die Oberfläche drängen. Bald erfüllt das behütete Leben in der Glaubensgemeinschaft, der auch ihr Mann und ihre beiden Töchter angehören, seinen Zweck nicht mehr.

Der Thriller, der seinem Vorgänger «Chrieg» (2014) kaum nachsteht, spielt zwar im Freikirchen-Milieu, aber der religiöse Glaube und Ruths Zweifel daran sind wie ein Gleichnis für ganz grundsätzliche und weltliche Fragen: Wem kann ich vertrauen und was soll ich glauben? Das Gebaren der Anführer dieser Kirche weckt unangenehme Assoziationen mit Heilsversprechern aus der Politik: Diese wie jene vertreten ein binäres Weltbild, wir sind die Guten, dort das Böse. Beide operieren mit Angstmache, um ihre Anhänger umso enger an sich zu binden und sich selbst heller leuchten zu lassen.

Die Geborgenheit innerhalb solcher Gruppierungen, egal ob religiös, politisch oder sonst wie geprägt, ist trügerisch, lehrt uns «Der Unschuldige», weil das beruhigende Gefühl der Zugehörigkeit die Selbständigkeit und das kritische Denken beeinträchtigt. – Wenn es nicht sogar aktiv verhindert wird. Insofern ist Simon Jaquemets zweiter Spielfilm, der seinem Vorgänger «Chrieg» (2014) kaum nachsteht, ein beunruhigend aktueller Film.

Das Perfide an «Der Unschuldige» ist, dass nicht nur Ruth immer weniger weiss, wem und was sie glauben soll. Es geht einem auch als Zuschauerin so, weil der Regisseur einen von der ersten Szene an auf Fährten lockt, von denen man nie weiss, wohin sie führen. Das ist ein riskantes Spiel, weil die Balance zwischen Andeutungen und Gewissheit stimmen muss, damit man das Interesse an den Figuren nicht verliert. Hier geschieht das Gegenteil. Man will wissen, warum Ruth im Garten Fleisch vergräbt, was es mit ihrer Raserei auf sich hat, ob sie den Mut zum Ausbruch aufbringt. Langeweile kommt auch darum nicht auf, weil Jaquemet sich wie schon in «Chrieg» als dreister Erzähler erweist. Man kann einzelne Szenen übertrieben finden, oder aber die wilde Inszenierung als Abbild des unsteten Charakters und der zunehmenden Verunsicherung seiner Protagonistin sehen. Und ebenso als Ausdruck der Erzählfreude eines jungen Regisseurs.

«Der Unschuldige» verlangt einem als Zuschauerin etwas ab, man kann diesen Film nicht einfach konsumieren. Vor allem nicht den mehrdeutigen Schluss. Der Gedanke, dass der Glaube – egal, an wen oder was –, Rettung bedeutet, ist genauso möglich, wie die Annahme, dass er einen in die Irre und zum Verlust des Gefühls für sich selbst und die Realität führt.

 

«Der Unschuldige» läuft ab 31. Oktober im Kino.

Zurück