UNTRAGBAR
Nicht praktisch. Und nicht schön: Die perfekte Einkaufstüte ist bis heute nicht erfunden.
Die bekannteste Tragtasche der Welt ist 20 Jahre alt, blau und heisst «Frakta». Drei Millionen Stück pro Jahr gehen bei Ikea über die Theke, sie wird in Vietnam und China aus Polypropylen hergestellt, fasst 71 Liter – und ist ein sagenhaft unpraktischer, unförmiger Beutel: Einmal aufgemacht, kann man ihn nie mehr richtig zusammenfalten. Will man die Tasche, gut gefüllt, irgendwo abstellen, bräuchte man fünf Beine, zwischen die man sie klemmen muss, damit nicht alles wieder herausfällt; der gelbe Tragegurt ist zu kurz, um die Tasche über die Schulter zu hängen, und zu lang, um sie in der Hand zu tragen, ohne dass sie über den Boden schleift. Trotzdem geht es nicht ohne sie: Männer im Anzug tragen sie als Accessoire, der britische Premier David Cameron zum Beispiel; Pfadis transportieren ihre Schlafsäcke damit, Städter ihr Altglas. Schwedische Archäologen haben sie verwendet, um 500 Jahre alte menschliche Knochen darin zwischenzulagern. Ein Kollege sagt, ein Leben ohne sie sei unvorstellbar. Obwohl sie hässlich und unpraktisch ist. Doch etwas Besseres hat man bis heute nicht erfunden.
Die Tasche zum Mitnehmen gibt es seit über 150 Jahren. Meist achtlos weggeworfen, wurde sie zur raschelnden Zeugin unserer Konsumgesellschaft. 1853 liess der Deutsche Georg Bodenheim die erste industriell gefertigte Papiertüte aus Altpapier zusammenkleben. Sie hatte noch keine Henkel und war besonders unhandlich. In den 1960er-Jahren kam dann die Plastiktüte auf, in Massen produziert und zwar nützlich zum Transportieren von Milch und Waschmittel, aber schmucklos. Die erste künstlerisch gestaltete Tasche war die zur Ikone gewordene Aldi-Tüte. Entworfen hat sie der Münchner Maler und Grafiker Günter Fruhtrunk. Es heisst, er habe sich später dafür geschämt, dass er den Auftrag annahm. Die Welt lernte Fruhtrunks geometrische Kunst an der «documenta 4» in Kassel kennen, aber sein berühmtestes Werk ist trotzdem die 1970 gestaltete Plastiktüte für Aldi Nord geblieben. Ausgerechnet ein Discounter kreierte erstmals eine Tragtasche, die sowohl nützlich als auch ansehnlich war. Woran es ihr jedoch mangelte, war das Sozialprestige: Wer sich mit der Aldi-Tüte zeigte, gab sich als armer Schlucker oder Geizhals zu erkennen.
Neue Fertigungstechniken und Materialien bestimmten das Aussehen der Tragtaschen fortan ebenso wie Trends und Imagefragen. Während sie bisher bloss Gebrauchsartikel waren, füllten sie sich seit den späten 70er-Jahren nicht nur mit Einkäufen, sondern wurden zum Symbol für Kaufkraft, Wünsche und Träume ihrer Träger. Es sollen Juweliere gewesen sein, die damit anfingen, robustere Täschchen aus beschichtetem Papier herzustellen, damit die Kundinnen nicht mehr nur Colliers um den Hals tragen, sondern auch zeigen konnten, wo sie diese herhatten.
Seit die Marketingabteilungen anderer Warenhäuser weltweit den Nutzen von Tragtaschen als billigen Werbeflächen entdeckt haben, ist der Kunde buchstäblich zum Imageträger für die Geschäfte geworden. Man trägt mit der Tasche nicht mehr nur den Einkauf fürs Nachtessen oder Kleider von A nach B, sondern ebenso eine Botschaft mit sich herum: «Ich kann mir Chanel leisten.» «Ich kaufe bei Migros ein und nicht bei Coop.» «Ich trage Unterwäsche von Victoria’s Secret» bzw., wenn Männer mit den winzigen kartonierten Geschenktäschchen durch die Stadt flanieren,«Meine unfassbar langbeinige Freundin trägt Unterwäsche von Victoria’s Secret.»
Modemarken wissen die Tüte nicht nur als Werbeträger zu schätzen, sie machen sie auch selbst immer wieder zum Modeaccessoire: 2012 hat Jil Sander eine Papiertasche entworfen, eine Hommage an die braunen US-Einkaufstüten aus Packpapier, die etwa 300 Franken kostete und wie das Original henkellos und schwierig zu tragen war. 2007 veredelte Louis Vuitton den weiss-rot-blauen «Chinatown Laundry Bag» zur Luxustasche, aus dem genau gleichen Material wie das Original: Polypropylen, aber über tausendmal so teuer. Billiglinien wie Zara verpacken einem die Einkäufe in Papiertüten in elegantem Nachtblau. Denn wenn die Kleider schon nichts wert sind, soll wenigstens die Tasche den Anschein von Qualität erwecken. Auf Ebay und Amazon bieten geschäftstüchtige Luxusshopper ihre gebrauchten, folienbeschichteten Tragtaschen von Gucci, Prada oder Chanel feil. Damit kauft man sich dann zwar günstig das Image von Reichtum, aber auch das eines Umweltsünders.
Pro Jahr werden weltweit etwa eine Billion Plastiktüten verbraucht, die meisten landen, einmal gebraucht, auf dem Müll, nur ein Bruchteil wird recycelt. Seit Bio salonfähig und die Notwendigkeit von Umweltschutz bei uns angekommen ist, schlagen Grossverteiler wie Coop und Migros Kapital daraus: Für zwei Franken kann man an der Kasse statt der üblichen Tasche aus Papier eine der Mehrwegtaschen aus recyceltem PET kaufen. Ob man damit wirklich etwas für die Umwelt getan hat? Die Taschen sind derart hässlich, dass man kein zweites Mal mit ihnen gesehen werden möchte.
Dabei gehörten die Schweizer neben den Dänen zu den Ersten, die verstanden, dass Tragtaschen eher wiederverwendet werden, wenn sie schön aussehen: Ab 1979 gestalteten berühmte Maler und Illustratoren wie Allen Jones, Erté und Claus Otto Paeffgen für den Strumpfhändler Fogal Täschchen, die heute begehrte Sammlerstücke sind. Von den Grossverteilern stellt in der Schweiz nur Globus eine Tasche her, mit der man sich sehen lassen kann – manchmal ziehen Frauen an der Migros-Kasse eine sorgfältig gefaltete Globus-Tasche aus ihrer Handtasche, um die Einkäufe darin nach Hause zu tragen.
Im Genossenschaftsgebiet Zürich, und leider inzwischen nur noch dort, verkauft die Migros aktuell immerhin fünfzehnmal im Jahr Tragtaschen in limitierter Auflage, die von Künstlern gestaltet worden sind oder auf kulturelle Veranstaltungen aufmerksam machen. Angefangen hat es 1987 mit Bernhard Luginbühl, es folgten Daniel Spoerri, Rolf Iseli oder Pipilotti Rist. Die bisher denkwürdigste ist die Tasche zum Einsiedler Welttheater von 2013. Da stand in grossen weissen Lettern auf blauem Grund «Heilandsack!» geschrieben. Die Empörung über die vermeintlich gotteslästerliche Tragtasche war so gross, dass Abt Werlen in Einsiedeln sie in eine Sonntagspredigt aufnehmen und den empörten Kirchgängern erklären musste, dass der Ausdruck «Heilandsack» früher ein gängiger Hilferuf an Gott war und kein Fluch. Der Tragtasche hat die Predigt nicht geholfen. Bis heute warten wir vergeblich auf eine Tüte, die schön, stabil und sozial kompatibel ist. Heilandsack.
Erschienen in "Das Magazin" am 11. Juli 2015