Viel Schweiz, wenig Mut
50 Schweizer Filme laufen am Filmfestival Locarno. Aber die Rekordzahl allein ist nichts wert. Die Werke müssen das Publikum beeindrucken. Da geht noch was.
«Rekord!», jubelt Swiss Films, zuständig für die Promotion von Schweizer Filmen, in ihrem Newsletter. «Noch nie wurden so viele Filme aus der Schweiz in Locarno gezeigt.» 50 seien es, schreibt Swiss Films. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider spricht an der Eröffnungsfeier von 49. Ob einer mehr oder weniger, egal, die hohe Zahl wird stolz herumgereicht. Filmfestivals, stets in Konkurrenz zueinander, lieben die Bekanntgabe von Rekordzahlen.
Die meisten dieser «Filme aus der Schweiz» sind internationale Koproduktionen, und immer wieder wird darüber gestritten, ob diese überhaupt als Schweizer Filme gelten dürfen. Giona A. Nazzaro, der künstlerische Leiter des Festivals, findet etwa, man könne Filme «nicht nach Quoten oder Nationalitäten einstufen. Für mich zählt immer nur: Sind es gute oder schlechte Filme?» Aber auch eine Rekordzahl allein macht noch nichts aus. Es sind die Werke selbst, die Eindruck hinterlassen müssen. Ist nun also gut oder schlecht, was in den ersten fünf Tagen am Festival zu sehen war?
Die Erwartungen an «Electric Child» von Simon Jaquemet (CH/D/NL) waren hoch, weil Jaquemet 2014 mit «Chrieg» das Klischee des netten Schweizer Films hinter sich gelassen hat. «Chrieg» und ein Jahr zuvor auch Petra Volpes «Traumland» gehören heute zu den Filmen, die für eine neue Generation des Deutschschweizer Filmschaffens stehen, weil sie neue erzählerische und ästhetische Massstäbe setzten.
«Electric Child» erzählt vom genialen Sonny (Elliott Crosset Hove), der eine selbstlernende KI entwickelt. Als er Vater wird, erfahren er und seine Freundin Akiko (Rila Fukushima), dass ihr Sohn wegen eines Gendefekts wohl nur ein Jahr leben wird. Sonny nützt in der Verzweiflung seine KI, damit sie ihm helfen möge. Das ist streng verboten und hochgefährlich.
Das todkranke Kind mit KI retten
«Electric Child» ist ein Science-Fiction-Drama und damit eine Rarität für die Schweiz. Das Set-Design ist herausragend atmosphärisch, der Kontrast zwischen kalter Technik und menschlicher Wärme hart und effektiv. Die Lernfähigkeit der KI ist klug visualisiert anhand eines Kindes in einem Game, an dem Sonny arbeitet. Je mehr die Figur kann, desto besser und auch gefährlicher wird die KI.
Allerdings verlangt diese Sache mit den Computern nach vielen Erklärungen. Es ist, als ob Jaquemet diesmal seinen eigenen Bildern weniger trauen würde als zuvor und deshalb zu viel Dialog zu Hilfe nimmt. Trotzdem gehört «Electric Child» zu den Werken, die Eindruck machen, weil Jaquemet, im Gegensatz zu vielen anderen, kompromisslos erzählt, eine ganz eigene Ästhetik entwickelt und existenzielle Fragen verhandelt, ohne sein Publikum zu belehren.
Was den visuellen Gestaltungswillen angeht, hat «Sew Torn» (USA/CH) von Freddy Macdonald Ähnlichkeit mit «Electric Child», wobei die hektisch-schnellen Schnitte dieses Was-wäre-wenn-Thrillers eher an Tiktok-Videos denn an Kino denken lassen.
Nazzaro zählt Simon Jaquemet zu jenen «talentierten und visionären Künstlern», die das Schweizer Filmschaffen international bekannter machen. Jaquemet gehört dem Filmkollektiv 8horses an, und was dieses produziert, ist immer anders, wagemutig, eigenwillig und darum bemerkenswert. Wie auch der «Der Fleck» (D/CH), ebenfalls von 8horses koproduziert, der in der Sektion Cineasti del Presente läuft. Es ist eine mäandernde Coming-of-Age-Story, trocken erzählt, aber voll unbestimmter Sehnsucht, Planlosigkeit und Einsamkeit.
Zu unbestimmt bleibt «Reinas» (CH/E/PER) von Klaudia Reynicke, die 2019 mit «Love Me Tender», einem grotesk-humorvollen und bitteren Märchen, auf sich aufmerksam machte. «Reinas» nun, der am US-Filmfestival in Sundance Premiere feierte, ist zwar kunstfertig inszeniert, aber so lieblich, dass am Ende eher der Auftritt der überglücklichen Jungschauspielerin Abril Gjurinovic auf der Piazza-Bühne in Erinnerung bleibt als die Familiengeschichte um zwei Mädchen und ihren notorisch lügenden Vater.
Wo Schweiz draufsteht, ist nicht immer Schweiz drin
Warum laufen zurzeit so viele «Filme aus der Schweiz», die eher «Filme mit Schweizer Beteiligung» heissen müssten. Ist das Zufall? Politik? «Das ist weder Zufall noch politisch motiviert, sondern darauf zurückzuführen, dass es hochinteressante Filme sind», sagt Giona A. Nazzaro. «Wie in den letzten Jahren häufig betont wurde, ist die Qualität der Schweizer Filme gestiegen. Ich wollte die neue Generation von Schweizer Filmemachern auf der Piazza feiern und ihnen die grösste Leinwand der Welt schenken.»
Er sei stolz darauf, dass «Der Spatz im Kamin» von Ramon und Silvan Zürcher seine Weltpremiere in Locarno feiere, nachdem frühere Werke der Brüder schon an Festivals wie der Berlinale gezeigt worden seien. Dieser Film ist einer der wenigen in Locarno, der keine internationale Koproduktion ist.
Aber ist er auch gut? Zumindest fängt er sehr gut an: Karen (Maren Eggert) und ihre Familie leben im Haus, in dem sie und ihre Schwester Jule mit einer gefühlskalten Mutter aufwuchsen. Wie Karen damals, so leiden heute ihre eigenen Kinder unter ihr, weil sie Traumatisches offenbar nie verarbeiten konnte. Welches Zimmer die bittere Karen auch immer in ihrem Haus betritt, das die Zürchers stets in goldenes Licht tauchen, die Temperatur sinkt sofort ab. Als Karens Schwester Jule mit ihrem Mann zu Besuch kommt, beginnen notdürftig unterdrückte Aggressionen zu eskalieren.
Schon kommt man auf die Idee, «Der Spatz im Kamin» mit dem ikonischen Dogma-Film «Festen» von Tomas Vinterberg zu vergleichen. Aber dann, aus Gründen, die man nicht nachvollziehen kann, verpufft diese unerträgliche und darum immer interessantere Anspannung in – nichts, in Schweigen und in dieses sanft-verklärte Lächeln, das die Zürcher-Brüder ihren Figuren so gerne aufsetzen. Das Drama fällt in sich zusammen.
Haben die Filmemacher Angst bekommen vor der eigenen Phantasie, der Drastik, die sich da entwickelt? Oder mussten sie SRF gefallen, das «Der Spatz im Kamin» koproduziert hat? Denn wenn das Schweizer Fernsehen involviert ist, ist diese Nettigkeit und Harmlosigkeit, die Jaquemets Generation nie interessiert hat, weniger überraschend als vielmehr zu erwarten.
Bei RTS ist alles anders. In den ersten zwei Episoden der Serie «Espèce menacée», die in Locarno gezeigt wurden, ist alles drin, was man beim Deutschschweizer Fernsehen nicht so mag, weil es empörte Zuschauerpost verursacht: Es geht los mit Sex, es wird geflucht und gesoffen, es werden Männlichkeitsneurosen parodiert und Drogen konsumiert. Und es gibt Berge. Aber die sind nicht liebliche Dekoration, sondern schneefreier Schauplatz einer Komödie, mutmasslich auf direktem Weg in die Tragödie. Man feiert, was noch geht, bevor der ehemalige Wintersportort entweder von einem Bergsturz vernichtet oder umgewandelt werden muss in einen Vergnügungspark. Ab 10. August läuft die Serie auf Play Suisse. Und in Locarno zeigt sich nach den ersten paar Tagen: Es bleibt zäh mit den «Filmen aus der Schweiz», die so viel Eindruck machen, dass man sie nicht mehr vergisst.
(Am 10 .8.2024 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: )