Vom Nettsein wird die Welt nicht gerechter
Die Autorin Rebecca Traister beschreibt in «Good and Mad», wie wütende Frauen die US-Politik beeinflussen. Wir sollten sie zum Vorbild nehmen.
Man kennt den Satz aus dem Kino: «Du bist so süss, wenn du wütend bist.» Damit macht man eine Zornige zwar mundtot, aber zugleich stellt der Sprecher sich selber bloss.
Denn der Satz fasst zusammen, warum viele Männer es für nötig halten, weibliche Wut kleinzureden und lächerlich zu machen: Sie ist bedrohlich. Wie sehr weibliche Wut als eine Perversion von Natur und sozialen Normen gilt, davon handelt das Buch «Good and Mad. The Revolutionary Power of Female Anger» von der amerikanischen Journalistin und Autorin Rebecca Traister.
Sie beschreibt darin den Einfluss von weiblicher Wut auf die amerikanische Politik. Davon, dass Anliegen von Frauen erst dann ernst genommen werden, wenn dafür demonstriert wird. Und sie beschreibt, wie man Wütende seit je zum Schweigen bringen will, indem man sie glauben macht, sie seien hysterisch, hässlich und unweiblich. Während ein Mann sich mittels Wut Respekt verschafft, ist der Effekt bei einer Frau der Gegenteilige. Eine tiefe Stimme macht Eindruck, eine hohe nicht.
Traister erzählt von all den Amerikanerinnen, die sich davon nicht beeindrucken liessen und mit wütenden Protestaktionen gesellschaftliche Veränderungen lostraten. Im 18. Jahrhundert beispielsweise erstritt sich die Sklavin Elizabeth Freeman vor Gericht ihr Recht auf Freiheit. Ihr Protest führte später zur Abschaffung der Sklaverei in Massachusetts.
Ende des 19. Jahrhunderts protestierte die Hausfrau Carrie Nation mit der Axt gegen den grassierenden Alkoholismus: Sie schlug Scheiben von Saloons ein, wo die Männer ihren Lohn versoffen. Es war einer der ersten Schritte hin zur Prohibition.
Die schwarze Studentin Rosa Parks, die sich 1955 weigerte, im hinteren Teil des Buses zu sitzen, stand am Anfang der Bürgerrechtsbewegung. Traister zitiert aus Büchern und führte viele Interviews mit Frauen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten für ihr Stimmrecht und gegen Abtreibungsverbote kämpften, gegen Diskriminierung von Minderheiten, oder die Lohngleichheit und bessere Kinderbetreuung forderten.
Der Schwerpunkt von «Good and Mad» liegt auf der Zeitspanne, die ungefähr mit dem Wahlkampf von Trump und Clinton beginnt und mit Christine Blasey Fords Anschuldigungen gegen den 2018 kandidierenden Bundesrichter Brett Kavanaugh wegen sexueller Übergriffe endet. Ihre eigene Wut sei der Grund für dieses Buch, schreibt Traister. Die Wut auf das Land, das einen Frauenhasser und Rassisten zum Präsidenten gewählt hat und das «seit 226 Jahren keine einzige Präsidentin und nicht einmal eine Vizepräsidentin hatte.»
Sie versucht das Thema so nüchtern zu beschreiben wie möglich, aber man spürt ihren Zorn zwischen den Zeilen. Auch ihre Hoffnung: darauf, dass die Energie, die #MeToo freigesetzt hat, die Gesellschaft nachhaltig verändert.
Es ist befreiend, von all den Wütenden zu lesen, weil diese es sich erlauben, öffentlich einem Gefühl Ausdruck zu geben, das sich für Frauen angeblich nicht schickt – und damit auch noch etwas erreichen.
«Good and Mad» macht Mut, zur eigenen Wut zu stehen, statt zu schweigen, wie man es sich als Frau angewöhnt hat. Aus Angst, für so einen Gefühlsausbruch ausgelacht zu werden. Und wenn man doch etwas sagt, dann als Witz getarnt. «Aber Humor kann Wut nicht ersetzen», schreibt Traister; und die Tränen, die Frauen bei Auseinandersetzungen oft weinten, seien selten solche der Trauer.
Je länger man in ihrem Buch liest, desto mehr fragt man sich: Und wie ist es bei uns?
Das Ernüchternde an ihrem Buch ist, dass die Lektüre einem mit den Beispielen von all den verlorenen oder beinahe verlorenen Kämpfen vor Augen führt, wie systematisch Frauen und immer auch Minderheiten zum Schweigen gebracht werden.
Traister nennt die Mechanismen, die jeweils zum Einsatz kommen. Erstens: Man desavouiert sie. Man redet ihre Wut klein oder erfindet ein schädliches Narrativ, wie dasjenige aus den 1980er Jahren von der Feministin als frigider Männerhasserin, mit unrasierten Beinen und bestimmt lesbisch.
Zweitens: Man wehrt sich, indem man Ausnahmen zur Regel erhebt und behauptet, es sei alles gut. Barack Obama wurde Präsident, also gibt es keinen Rassismus mehr. Christine Lagarde ist Chefin des Internationalen Währungsfonds, also ist Gleichberechtigung erreicht.
Die Wahl von Donald Trump hat diese scheinbaren Errungenschaften jetzt als Illusion bestätigt, und die Wut über anhaltende Diskriminierung ist erneut und umso heftiger ausgebrochen, wie am 21. Februar 2017 bei den «Women’s Marches» nach Trumps Amtseinführung.
«Good and Mad» zeigt, wie sehr «The Land of the Free» vor allem Freiheit für die weissen heterosexuellen Männer bedeutet: «Was unsere Gründer aufgebaut haben, war keine repräsentative Demokratie, sondern eine, in der eine Minderheit regierte, die den Mythos einer breiten und gerechten Repräsentation aller erschaffen hat. Diese Minderheit profitierte von der Arbeit der Unterdrückten und erschwerte ihnen gleichzeitig den Zugang zum Markt», schreibt Traister.
Je länger man in ihrem Buch liest, desto mehr fragt man sich: Und wie ist es bei uns? Die Gleichstellung ist seit 1981 in der Verfassung verankert, aber die Umsetzung des Verbots von Diskriminierung und der Sicherstellung von Chancengleichheit in der Arbeitswelt lief so zögerlich, dass 1991 eine halbe Million Frauen in Streik traten. 2018 versuchten Teile des National- und Ständerats Initiativen zur Lohntransparenz zu verhindern. Was muss geschehen, bis endlich Lohngleichheit herrscht?
Wie im «Land of the Free» sind es auch in der Schweiz trotz allen Fortschritten immer noch vorwiegend weisse Hetero-Männer, die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur gestalten dürfen, die die Freiheit haben, sich zu verwirklichen, ohne irgendetwas «unter einen Hut bringen» oder sich gegen Diskriminierung wehren zu müssen.
Schweizerinnen haben viele Gründe, wütend zu sein. «Lassen Sie sich nicht mehr davon abhalten», rät Rebecca Traister am Schluss ihres Buches.
Rebecca Traister: «Good and Mad. The Revolutionary Power of Women’s Anger». Simon & Schuster, New York. Fr. 32.–.
(Erschienen in der «NZZ am Sonntag» am 18. Januar 2019)