Von Frau zu Mann zu Frau

Eine Albanerin schwört, ewig Jungfrau zu bleiben, damit sie leben darf wie ein Mann. Aber das allein macht nicht glücklich.

Marc (Alba Rohrwacher) verlässt das abgeschiedene Dorf in den Bergen Albaniens, in dem er sein Leben lang, vielleicht 30 Jahre, gelebt hat. Er reist nach Italien zu Lila (Flonja Kodheli) und deren Familie. Lila ist Marcs Cousine und engste Verbündete. Sie sind zusammen in der Einsamkeit der Berge aufgewachsen und teilen Erinnerungen an eine bedrückende Vergangenheit. Während wir Marcs Reise nach Italien mitverfolgen, seine Mühen, sich in der modernen Welt einzuleben, erzählt die Regisseurin Laura Bispuri parallel dazu, wie Marcs und Lilas Vergangenheit in den Bergen aussah: Damals hiess Marc noch Hana und war ein Mädchen, das sich nicht für Haushalt und Heirat interessierte, sondern lieber mit dem Onkel auf die Jagd ging. Dieser machte Hana mit der Tradition der Kanun bekannt: Frauen erhalten alle Freiheiten, die Männer haben, wenn sie den Schwur ablegen, für immer Jungfrauen zu bleiben. Hana schwört, wird äusserlich zu Marc, bleibt innerlich aber Hana.

Während man als Zuschauer in Hanas Vergangenheit zurückreist, in eine wilde Natur, fotografiert in wunderschönen Bildern, macht Marc sich auf nach Italien und findet allmählich zurück zu seinem weiblichen Ich. Er wird dazu angeregt durch Lilas Tochter, eine Synchronschwimmerin. Hana begleitet das Mädchen ins Training, schaut all den Körpern im Wasser zu und beginnt, sich für ihren eigenen zu interessieren. Ihre Faszination für Bernhard (Lars Eidinger), den Bademeister, lässt Hanas jahrelang unterdrückte Sexualität wieder erwachen.

«Vergine giurata» erzählt gemächlich, aber eindringlich von einer zweigeteilten Persönlichkeit auf der Suche nach ihrer Identität. Von einer Person, die unterschiedliche Geschlechterrollen am eigenen Leib durchexerziert. Ausgehend von einem Schwur, der Freiheit verspricht, Frauen in Wahrheit aber einengt, erkundet Bispuri das Verhältnis zwischen Weiblichkeit, Identität und Freiheit. Sie fängt an im archaischen Albanien und endet in unserer modernen Gesellschaft, wo Frauen – wie die Synchronschwimmerinnen – makellos und angepasst sein müssen. So bleibt die Frage offen, wie frei westliche Frauen heute wirklich sind.

 

(Erschienen am 31. März im Züritipp; Bild: repubblica.it)

Zurück