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Benjamin Lutzke spielt in «Chrieg» einen Schwererziehbaren. Seine erste Rolle bringt ihm eine Auszeichnung nach der anderen ein.

Sein Leben vor «Chrieg» war das eines Teenagers, der seine Lehre als Lüftungsplaner abgebrochen hatte und nicht wusste, was er jetzt tun sollte. «Als ich an einem Samstag am Zürcher Hauptbahnhof auf einen Kumpel wartete, kam ein Typ auf mich zu. Er fragte mich, ob ich in seinem Film mitspielen wolle», sagt Benjamin Lutzke, ein scheu wirkender junger Mann. Der Typ war Simon Jaquemet (36), ein Zürcher Filme­macher. Lutzke, damals 16, war einer der Ersten von etwa 1000 anderen, die Jaquemet zum Casting für seinen Erstlingsfilm «Chrieg» einlud. Und Lutzke war der Richtige.

Er spiele seine Rolle mit beängstigender ­Authentizität, konnte man über ihn lesen, als er den Max-Ophüls-Preis als bester Hauptdarsteller gewann. Am internationalen Filmfestival in Marrakesch überreichte ihm Isabelle Huppert einen zweiten Preis. Jetzt ist er für den Schweizer Filmpreis nominiert.

«Chrieg» ist ein Film, der nichts zu tun hat mit dem, was man sonst so oft von Schweizer Filmen geboten bekommt. Es geht darin um Matteo, einen orientierungslosen 15-Jährigen. Er hat kaum Freunde, mit seinen Eltern kommt er nicht zurecht. Weil sie ihn für schwer erziehbar halten, schieben sie ihn ab auf eine Alp, wo er durch harte Arbeit zur Besinnung kommen soll. Aber in dieser öden Bergwelt erwartet ihn etwas ganz anderes. Es sind ein Mädchen und zwei Jungen, Ali, Anton und Dion, die noch viel schlimmer sind als er. «Chrieg» ist so stark, weil der Regisseur die Geschichte kompromisslos erzählt, weil er sich nicht gesellschaftspolitisch gibt und darauf verzichtet, das oft fragwürdige Verhalten der Jugendlichen zu beurteilen. Das muss man als Zuschauer selbst tun.

Die schauspielerische Leistung der jungen Crew – fast alles Laien – ist herausragend. «Bevor wir zu drehen anfingen, haben wir einander beim Proben kennen gelernt. Das war megawichtig, und ging nicht von heute auf morgen», sagt Lutzke. Die Figur des Matteo verändert sich stark im Verlauf der Geschichte.

Den neuen Matteo lernte Benjamin Lutzke am ersten Drehtag auf der Alp kennen. Unvorbereitet. «Ich traf auf die Leute, die ich seit der Probe nicht mehr gesehen hatte. Ich wurde aus dem Auto direkt vor die laufende Kamera gezerrt. Statt mich zu begrüssen, steckten sie mich, also Matteo, in einen Zwinger. Da habe ich gespürt, dass der Matteo hier oben nichts mehr mit dem Matteo aus dem Tal zu tun hatte.» Die Szenen, die folgten, gehören zu den härtesten des ganzen Drehs: Matteo wird vor der Hütte angekettet, es ist kalt, er wird getreten. «Es gab auch Szenen, in denen ich nach dem dritten Take sagte, ich mach nicht mehr weiter. Zum Beispiel dann, als ich vor den anderen auf die Knie gehen und wie ein Hund bellen muss. Aber das war auch für sie schwierig. Ella, die Ali spielt, kam nach den ­Takes immer zu mir und sagte: ‹Hey, es tut mir megaleid, du weisst, ich meine es nicht so!›»

Vor «Chrieg» hatte Benjamin Lutzke nie daran gedacht, Schauspieler zu werden. Dass er es so gut kann, liegt möglicherweise daran, dass er früher sehr viel gelogen hat. «Ich war richtig gut darin. Davon habe ich profitiert. Schon beim Casting dachte ich: Das ist ja wie lügen.»

Ausserdem teilt er gewisse Eigenschaften mit Matteo: «Wenn mich in der Schule jemand geärgert hat, bin ich entweder stumm geblieben, oder ich bin voll ausgerastet. Und ich hatte oft Streit mit meinen Eltern. Ich habe versucht, ­Matteo aus diesen Gefühlen heraus zu spielen.» Manchmal kam die Wut auch von allein zurück: «Als ich einmal die Scheibe eines Autos eintreten sollte, wollte die einfach nicht kaputtgehen. Wir mussten das x-mal wiederholen. Das war nicht nur körperlich anstrengend. Ich steigerte mich richtig in diese Wut hinein.»

Als Benjamin Lutzke nach den 36 Drehtagen nach Hause kam, fehlte ihm seine Filmfamilie. «Die intensive Zeit war vorbei, und ich hatte wieder nichts zu tun.» Um dem drohenden Loch auszuweichen, hat der 18-Jährige ein Praktikum als Pflegefachmann im Epilepsiezentrum Zürich angefangen und festgestellt, dass ihm das liegt. Im August beginnt er mit seiner Lehre als Fachmann Gesundheit; an eine Schauspielschule will er noch nicht. «Zuerst brauche ich eine Ausbildung. So bleibt man im Leben drin. Bei der Schauspielerei, das merkt man schnell, ist man bald nur noch mit sich selbst beschäftigt und verliert, wie sagt man, etwas ­Solides.»

Lutzke scheint wenig anfällig dafür. Er sei jetzt nichts Spezielles wegen «Chrieg», weder für sich noch für seine Freunde, sagt er. Ihm selbst habe der Film viele neue Perspektiven eröffnet. «Ich weiss jetzt ganz sicher, dass ich was mit Film machen will, ob als Schauspieler oder etwas anderes. Der Film lässt mich nicht mehr los.»

 

Erschienen im Züritipp am 12. März 2015