Barry Jenkins: «Weil das Kino so lange von Weissen dominiert war, wirken Filme wie meine jetzt radikal.»

Dabei tue ich in «Moonlight» oder in «If Beale Street Could Talk» nichts anderes, als Schwarze so zu zeigen, wie sie sind: als Menschen mit komplexem Innenleben.

Nach meinem Oscar für «Moonlight» 2017 waren manche versucht, zu denken, jetzt sei alles gut. Die Auszeichnung wurde als Symbol für Fortschritt gedeutet. Schaut einmal, wie vielfältig wir sind! Schaut einmal, was für ein Schmelztiegel der Kulturen unser Land ist! Jetzt müssen wir uns keine Sorgen mehr machen, die Ungleichheit ist überwunden.

Es war wie in der Politik: Kaum, dass Barack Obama gewählt worden war, glaubte Amerika, der Rassismus sei besiegt. Aber das ist falsch. Man sieht ja, was für einen Präsidenten wir jetzt haben.

Wie Obama Geschichte ist, so ist es auch «Moonlight». Es war nur ein Film in diesem einen Jahr. So viele Probleme, mit denen wir damals konfrontiert waren, haben wir heute immer noch. Darum sehe ich «Moonlight» nicht als Meilenstein. Dieser Moment bei den Oscars war wichtig, aber es war nur ein Moment. Fortschritt geschieht nicht an einem Abend. Dafür braucht es eine kontinuierliche Anstrengung. Es ist schade, dass bei der Preisverleihung die Umschläge verwechselt wurden, weil danach alle nur über das Chaos sprachen, das deswegen entstanden ist.

Dabei wäre die Tatsache, dass die Oscar Academy, die aus vorwiegend sehr konservativen, sehr alten und sehr weissen Männern bestand, sich doch dafür entschieden hat, einem Low-Budget-Film über einen homosexuellen Afroamerikaner mit einer drogensüchtigen Mutter den Preis als bestem Film zu geben. Dass es diese Jury war, von der es immer heisst, sie könne sich in keine Figur hineinversetzen, die nicht so aussehe und lebe wie sie selbst. Das ging verloren wegen des Chaos während der Show.

Ich hoffe, dass in Zukunft viel mehr verschiedene Geschichten von unterschiedlichsten Menschen erzählt werden. Ob diese Geschichten dann Oscars gewinnen oder nicht, ist unwichtig. Es geht darum, dass die Geschichten erzählt und gesehen werden. So, wie es zurzeit geschieht mit «The Hate U Give» von George Tillman jr., «Sorry to Bother You» von Boots Riley, «Black Panther» von Ryan Coogler und «BlacKkKlansman» von Spike Lee. Vielleicht kann man sogar den Animationsfilm «Spider-Man: Into the Spider-Verse» als schwarzen Film bezeichnen.

 
Das sind alles sehr verschiedene Werke, aber trotzdem behandeln alle Aspekte des schwarzen Lebensgefühls. Insofern ist das eine inspirierende Zeit für das «black cinema». Das stimmt mich hoffnungsvoll. Ich habe «If Beale Street Could Talk» adaptiert, weil ich den Autor James Baldwin schon immer bewundert habe. Dieser Roman vereinigt zwei von den vielen Stimmen in sich, in denen er zu schreiben pflegte. Einerseits die sinnliche, mit der er über Liebe und Beziehungen sprach, andererseits die politische, mit der er nicht weniger leidenschaftlich die Ungerechtigkeit in der amerikanischen Gesellschaft verhandelte und beschrieb, wie Politik und Justiz Millionen Schwarzen ihre Rechte raubten und ihre Leben und ihre Seelen zerstörten.Wenn James Baldwin ein Gefühl beschreibt, dann ist in dieser Beschreibung wundersamerweise alles enthalten, was es ausmacht, ein Mensch zu sein. In Zeiten wie unseren ist es besonders reizvoll, im Film dasselbe zu tun.
 
Weil das Kino so lange von Weissen dominiert war, wirken Filme wie meine jetzt radikal. Dabei tue ich in «Moonlight» oder in «If Beale Street Could Talk» nichts anderes, als Schwarze so zu zeigen, wie sie sind: als Menschen mit komplexem Innenleben. Dass man das jetzt radikal findet, liegt nur daran, dass es solche Geschichten bis jetzt so selten zu sehen gab. Ich sehe mich aber trotzdem nicht als Aktivisten. Wenn ich diese Geschichten nur erzählen würde, um damit einen Leerraum zu füllen oder weil ich irgendeine Art von Gerechtigkeit erreichen will, täte ich meinen Figuren unrecht. Denn dann würde ich mich weniger für ihr Wesen interessieren als vielmehr für die Botschaft, die sie transportieren sollen.
 
Für James Baldwin war «If Beale Street Could Talk» ein Protestroman. Er hat einen viel bittereren und wütenderen Tonfall als ich. Aber ich kann nicht schreiben, wenn ich von Wut angetrieben werde. Dann verliere ich die Menschlichkeit meiner Figuren aus den Augen, um die es mir vor allem anderen geht. In «If Beale Street Could Talk» setze ich darum lieber auf die beinahe utopische Sicht dessen, wie das Leben dieses jungen Liebespaars sein könnte, und kontrastiere diese Bilder mit der brutalen Realität und was diese für ihre beiden Leben bedeutet. Ich versuche dieselben Probleme anzugehen wie James Baldwin, aber ich kontrastiere das Leiden und die Verzweiflung, die das Paar durchleidet, mit der Kraft, die Liebe, Familie und die Gemeinschaft in ihrem Viertel ihnen geben. Wut kann ein toller Motor sein, aber mir ist sie zu destruktiv. Ich will aufbauen, nicht zerstören.
 
 
(Erschienen in «NZZ am Sonntag" am 8. Februar 2019.)