Weil etwas passieren könnte

Ein Gymnasiast macht an seinem Geburtstag auf Facebook einen dummen Eintrag. Darauf nimmt ihn die Polizei in Untersuchungshaft.

Am Freitag, dem 23. März 2012, kurz vor Mittag, wurde Robert verhaftet. Er war eben von einem Spaziergang zurückgekehrt, den er unternommen hatte, um nachzudenken; Eminem in den Ohren: «Is there anyone out there who feels the way I feel? If there is, let me hear ...» Am Morgen war der Brief gekommen, den er erwartet hatte: Matura zum zweiten Mal nicht bestanden. Robert hatte die Jacke noch nicht ausgezogen, als es klingelte und fünf Polizisten an seinem Vater vorbei ins Wohnzimmer drängten.

«Sie sagten etwas von einem Durchsuchungsbefehl, von Waffen, von meinem Computer», sagt Robert. Seine Stimme ist gedämpft, seine Haltung krumm, als er ein Jahr später davon erzählt. Er hat sich weit nach vorn rutschen lassen auf der Bank in einem Park in Zürich-Enge, auf der er oft sitzt und Musik hört. «Wenig später schnappten auf meinem Rücken die Handschellen zu. Zwei Polizisten führten mich aus dem Haus und zum Polizeiauto, ein dritter trug meinen Laptop unter dem Arm.» Waffen hatten sie keine gefunden. Im Auto wollte er wissen, was los sei. Statt Auskünfte gab es Andeutungen. Ob er sich an einen bestimmten Eintrag auf Facebook erinnere. «Ich fragte mich, ob ich gehackt worden war. Ob irgendwer in meinem Namen was Schlimmes reingeschrieben haben könnte.» Auf dem Revier der Kantonspolizei kam Robert in eine Zelle. «Für eine, vielleicht drei Stunden, keine Ahnung, das ist alles so verschwommen jetzt.» Dann folgte die erste Befragung. «Der Polizist sagte irgendwas von Schreckung der Bevölkerung. Ich konnte mir nicht erklären, wann und wie ich die Bevölkerung erschreckt haben sollte.» Bis der Polizist dieses «Pow! Pow! Pow!» erwähnte. Robert schiebt seine Sonnenbrille hoch. «Das war wie ein Boxschlag. Da war ich wach.»

Pow!!!! Pow!!!! Pow!!!!

Am Tag zuvor, am 22. März, kam seine Mutter zu ihm ins Zimmer und weckte ihn. «Sie rief: ‹Guten Morgen, mein Küken! Alles Gute zum Geburtstag!› » Robert lächelt verlegen: «Das macht sie immer. Sie ist so eine Liebe, Fröhliche.» Den Rest des Tages verbrachte er allein, mit Musik, Fernsehen und Internet. Jeden Tag konnte der Brief mit den Resultaten zur Maturaprüfung eintreffen. Robert versuchte sich abzulenken. «Ich schaute am Morgen kurz auf Facebook vorbei, dann am Nachmittag nochmals, so gegen vier.» Er sah, dass ihm nicht so viele Freunde zum Geburtstag gratuliert hatten wie letztes Jahr. Aus einer Laune heraus, sagt Robert, habe er an seine Pinnwand geschrieben:

FREUT SICH HÜT NIEMERT, DASS ICH GEBORE WORDE BIN ... ICH SCHWÖR, ICH ZAHLS EU ALLNE ZRUG!!! ES ISCH NÖD E FRAG VO DE HÖFLICHKEIT, SONDERN VOM RESPEKT UND EHRE. ICH VERNICHTE EU ALLI, IHR WERDET ES BEREUE, DASS IHR MIR NÖD IM ARSCH KROCHE SIND, DENN JETZT CHAN EU NIEMERT ME SCHÜTZE ... POW!!!! POW!!!! POW!!!!

Dann ging er raus, drehte seine Runde durchs Quartier, hörte Eminem: «I’m a space bound rocketship and your heart is the moon and I’m aimin’ right at you ...» Er bewundert ihn. «Und Tupac. Die verwandeln ihre Emotionen, ihr Leben, in etwas Künstlerisches. Gefällt mir. Das versuche ich auch, wenn ich schreibe.» Robert will Schriftsteller werden, sagt er.

Am Abend traf Robert sich mit seinem Bruder und seiner Schwester zum Geburtstagsznacht im Burger King, er war zweiundzwanzig geworden. Gegen elf waren sie wieder zu Hause. Als er vor dem Schlafengehen nochmals auf Facebook vorbeischaute, war da eine Nachricht von seinem Englischlehrer. Er bat ihn, diesen Eintrag zu erklären, er meine das doch sicher nicht ernst. «Ich wollte eine schlaue Antwort schreiben, in schönem Englisch, aber mir fiel nichts ein. Ich war zu müde, um noch Wörter auf Google nachzuschlagen, und dachte, das könne ich ja auch am nächsten Tag erledigen.»

Am nächsten Morgen, kurz vor acht, rief der Lehrer bei der Kantonspolizei Zürich an. Der Polizist am anderen Ende der Leitung meinte, er solle die Sache nicht so ernst nehmen. So steht es im Vernehmungsprotokoll. Aber der Lehrer rief ein zweites Mal an. Die Polizistin, die er jetzt am Apparat hatte, wies ihn weiter an die Kripo. Vier Stunden später holten sie Robert ab. Beat Gut, der Bezirksrichter, der später mit Roberts Fall zu tun hatte, lächelt und sagt: «Wenn er geantwortet und sich erklärt hätte, wäre das vermutlich ganz anders gelaufen.» Seine Stimme hallt in seinem grossen Büro.

Wegen dieser zwei Minuten auf Facebook sass Robert nun auf dem Revier beim Verhör. Er habe sich zu erklären versucht, sagt er. Er habe doch nur ein wenig Aufmerksamkeit erregen, seinen Freunden etwas zu lachen geben wollen. «Die wissen, dass ich gern solches Zeug schreibe, dass Zynismus mein Markenzeichen ist.» Weil das alles ja nur ein Witz war, habe er gedacht, müssten die ihn eigentlich bald wieder laufen lassen.

Aber so schnell sollte es nicht gehen. Am Samstagmorgen führte man ihn der Staatsanwältin vor. «Sie war so eine junge, forsche Frau, recht sympathisch eigentlich.» Er versuchte ihr klarzumachen, was er am Tag zuvor dem Polizisten schon erklärt hatte: dass das alles nur ein Witz gewesen sei. Eine Dummheit. Dass er nicht gewalttätig sei. «Die Staatsanwältin wollte dann von mir wissen, was ich an ihrer Stelle tun würde. Wie sie dastehen würde, wenn sie mich gehen lassen und ich doch etwas anstellen würde. Ich konnte auf jeden Fall verstehen, dass sie Bedenken hatte», sagt Robert. An den Rest des Gesprächs erinnere er sich nicht mehr richtig.

Den Akten ist zu entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl einen «dringenden Ermittlungsauftrag an die Polizei» angeordnet hatte. Weil «der Beschuldigte dringend verdächtigt wird, am 22. März, ca. 22 Uhr, auf seinem Facebook-Profil einen Eintrag veröffentlicht zu haben, in welchem er habe verlauten lassen, dass er alle vernichten werde und sie nun keiner mehr schützen könne, wodurch er einen nicht genau bestimmbaren Personenkreis in Schrecken versetzt habe». Dazu kam, dass zwei Tage vor Roberts Facebook-Eintrag bei der Polizei mehrere Erpresserschreiben eingegangen waren. Alle abgeschickt über ein offenes WLAN-Netz von jemandem, der in s Nähe wohnt. Und weil er auch ein offenes Netz benutzt hatte, fiel der Verdacht auf ihn. Statt in Freiheit, wie Robert gehofft hatte, endete der Tag mit seinem Antritt der Untersuchungshaft. Sie sollte drei Wochen dauern.

Eingreifen, bevor etwas passiert

Beat Gut, der Richter, erklärt das Vorgehen: «Die Polizei veranlasst heutzutage sehr schnell ein formelles Verfahren, aus Angst, dass etwas passieren könnte.» Weil niemand das Risiko tragen wolle, dass etwas passieren könne. Weil man Angst habe vor der Verantwortung und «weil man Probleme bekommt, sobald ein Fehler passiert». Diese Entscheidung liege aber nicht nur bei den Behörden. Es sei vielmehr ein gesellschaftliches Phänomen, sagt Gut. «Die Leute sind verängstigter als noch vor zwanzig, dreissig Jahren, darum ist der Schutz der Bevölkerung zentral.»

Martino Mona, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Bern, sagt: «Das Strafrecht bekommt zunehmend den Charakter eines Verhinderungsrechts und ist einer Null-Risiko-Politik unterworfen. Es wird nicht mehr be­straft, nachdem jemand eine Tat begangen hat. Es wird präventiv eingegriffen, bevor überhaupt etwas geschieht. Selbst wenn die Gefahr sehr vage und diffus ist. Dass das Strafrecht eine schuldangemessene, gerechte Reaktion auf ein Verbrechen sein soll, verliert immer mehr an Bedeutung.»

Die fünf Risikofaktoren

Um am Tag seiner Verhaftung zu entscheiden, ob Robert nur verhört oder doch in U-Haft genommen würde, stützte die Polizei sich auf sogenannte Risikofaktoren, wie der Richter sie nennt. Es trafen gleich mehrere auf Robert zu. Erstens: Er war durch die Matura gefallen – das wusste Robert zum Zeitpunkt seines Facebook-Eintrags allerdings noch nicht. Zweitens: Seine «Drohung» erfolgte in schulischem Kontext. Da sei man heutzutage besonders vorsichtig, sagt der Richter und lächelt wieder: «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir auch hier einen Amoklauf haben. Wenn es noch nie einen Amoklauf gegeben hätte, wäre das wahrscheinlich anders beurteilt worden.» Drittens: Er ist ein Jugendlicher. Viertens: Er kommt aus einer fremden Kultur. Er ist zwar hier geboren, aber dennoch könnte er es schwieriger gehabt haben, sich hier zu integrieren. «Es ist leider so: Wenn Sie ein -ic am Ende Ihres Namens haben, behindert sind oder dunkle Haut haben, werden Sie mit Ausgrenzung konfrontiert.»

«Es sind immer die Ausländer, ich weiss schon», sagt Robert dumpf. «Jetzt lesen die Leute diesen Text und denken: ‹War ja klar, wieder einer von denen ...› So viele mit Migrationshintergrund leben extrem zurückgezogen, aus Angst, schlecht aufzufallen; in etwas verwickelt zu werden, das sie nichts angeht, ihnen dann aber zur Last gelegt werden könnte.» Der Richter legt Wert darauf, dass es sich bei diesen Faktoren um eine «statistische Erfahrung» handle, dass die Polizei sich am Anfang der Ermittlungen auf solche Zahlen stützen müsse. Anders könne man gar nicht einschätzen, ob weitere Abklärungen nötig sind oder nicht. Gemäss dem kantonalen Bedrohungsmanagement «musste man von Gewaltpotenzial ausgehen», sagt er.

Weitere Abklärungen durch zwei Psychiater sollten noch einen fünften Risikofaktor ergeben. Diese Begutachtung gehört auch zu dem «formellen Verfahren», wie der Richter es nennt. Spezialisten sollen entscheiden, ob man es mit einem potenziellen Gewalttäter oder, wie in Roberts Fall, mit einem potenziellen Amokläufer zu tun haben könnte. Darum folgte am 27. März, vier Tage nach Roberts Verhaftung, von der Staatsanwaltschaft der Auftrag zum Gutachten. «Als es hiess, ich müsse mich von Psychiatern begutachten lassen, bekam ich Angst.» Robert holt ein Zigarettenpäckchen aus der Hosentasche und sucht nach dem Feuerzeug. «Ich dachte, die könnten mich mit Terroristen in Verbindung bringen oder so, keine Ahnung», sagt er mit müdem Blick.

Robert hätte das Gutachten lesen können, hat aber darauf verzichtet: «Ich wusste ja, dass dabei gar nichts Schlaues rauskommen konnte. Ich hätte zwar gern gehabt, wenn sie mir gesagt hätten, wie ich so bin. Ein Träumer? Ein Melancholiker? Ein Resignierter? Wär noch chillig gewesen. Aber ob ich ein Verbrecher bin oder nicht, weiss ich selber. Dafür brauche ich kein Gutachten. Die Psychiater haben mir dann erzählt, ich hätte einen leichten Hang zum Narzissmus», sagt er. «Sie haben mir auch erklärt, sie müssten halt etwas liefern, womit sie arbeiten können.» Wohl darum relativierten die Experten ihren Befund der Behörde gegenüber: Ein bisschen Narzissmus sei «in dieser Alterskategorie nicht unüblich», so steht es in der Akte. Aber der Richter und sein Gerichtsschreiber nahmen diesen fünften Faktor sehr ernst. Zusammen mit den anderen Risikofaktoren sollte er am Ende ausschlaggebend sein für ihr Urteil.

Der Strafrechtsprofessor Martino Mona ist erstaunt, dass die Gutachter Robert keine Gefährlichkeit attestiert haben. Nicht weil Robert doch gefährlich sein könnte, sondern weil der Trend heute in die entgegengesetzte Richtung gehe: «Man erstellt Gefährlichkeits- und Risikoprognosen, und die Folge sind präventive und therapeutische Massnahmen aller Art. Das mag im ersten Moment vernünftig klingen, ganz nach dem Motto ‹Better safe than sorry›, aber so ein Vorgehen macht diesen Präventionismus unbesiegbar: Sobald jemand als gefährlich eingestuft worden ist, ist der Gegenbeweis faktisch nicht mehr möglich; man kann ja nie wissen, ob jemand, der inhaftiert oder präventiv weggewiesen wurde, tatsächlich ein Verbrechen begangen hätte, wenn man keine Massnahmen ergriffen hätte», sagt er.

Solche Massnahmen schränken die Freiheit von angeblich störenden oder vermeintlich gefährlichen Menschen massiv ein. Mona sagt: «Man könnte sich zwar schon gegen die Prävention und für die Freiheit des Einzelnen entscheiden, aber damit wäre ein Risiko verbunden, das niemand eingehen will. Diese Dynamik führt schliesslich unweigerlich dazu, dass viele bereit sind, Freiheiten für ein wenig mehr Sicherheit zu opfern.»

Dieselbe Ideologie der Prävention führt paradoxerweise auch zu einem ganz anderen Phänomen. Mona: «Anstatt die Strafe für begangenes Unrecht konsequent zu vollziehen, beginnt man, mit Vollzugslockerungen und dergleichen zu experimentieren – getrieben von der Vorstellung, man könne Täter therapieren und damit künftige Verbrechen verhindern. Dadurch schafft man die Illusion, zukünftiges Geschehen voraussehen und kontrollieren zu können. »

Am 29. März vernahm die Polizei Roberts Lehrer. Laut Protokoll beschrieb dieser seinen ehemaligen Schüler als unauffälligen und anständigen jungen Mann, der es nicht mal den Mädchen gegenüber nötig gehabt habe, den Macker zu spielen, sein einziges Vergehen seien die vielen Absenzen gewesen. Aber man wisse es, es seien doch oft die Unauffälligen, die plötzlich Gewalt ausübten.

Den Namen von Roberts Mitschülerin, die ihm den Facebook-Eintrag gemeldet hatte, wollte der Lehrer nicht nennen. Im Protokoll steht, er wolle nicht, dass sie in diese Sache reingezogen werde. Schliesslich stehe ihr eine aussichtsreiche Unikarriere bevor. Darum hat die Polizei das Mädchen nie befragt. Obwohl sie die Einzige war aus der «Bevölkerung», die Roberts Witz als Drohung aufgefasst hatte. «Ich hab keine Ahnung, wer es gewesen ist. Höchstens eine Vermutung. Aber das ist jetzt auch egal», sagt er.

Der Lehrer schätzte Roberts Neigung zu Gewalttaten als sehr gering ein. Dass er ihn trotzdem anzeigte, erklärt sich Robert damit, dass er «halt so ein lieber, so ein bekümmerter Mensch ist. Er hat sich immer um alles und jeden Sorgen gemacht; ist irgendwie klar, dass er fand, er müsse das melden.» Die Anfragen des «Magazins» lässt der Lehrer unbeantwortet.

Während die Polizei die Verhöre mit seinem Vater und seinen Geschwistern führte, sass Robert in der Zelle. Seine Familie beteuerte: Robert sei ungefährlich, man würde die Hand für ihn ins Feuer legen. Die ersten Tage verbrachte Robert zusammen mit einem älteren Libyer, der die ganze Zeit im Kreis ging und ihm verbot, auch nur ein einziges Geräusch zu machen. «Solange ich Zigaretten hatte, gings.» Einige Tage später bekam er eine andere Zelle. «Der Typ dort war easy.» Als beide draussen waren, haben sie zusammen dessen Geburtstag gefeiert. Die beiden kamen gut aus miteinander, aber Zeit zum Nachdenken blieb immer noch genug. Robert machte sich Sorgen um seine Familie, wie er sagt. Mehr als um sich selbst. «Ich hatte Angst, dass sie immer noch nicht wussten, warum ich verhaftet worden war. Dass mein Vater glauben könnte, es sei wieder was wegen Drogen.» Da war dieser Unfall vor einem Jahr. Robert hatte gekifft mit seinen Freunden und auf dem Nachhauseweg beim Abbiegen ein anderes Auto gestreift. «Das war blöd. Zum Glück wars nur ein Blechschaden.» Seinen Führerschein war er trotzdem los. Er grinst. «Dass ich so viel gekifft hab, das kommt mir rückblickend voll behindert vor.»

Mit dem Kiffen geriet alles durcheinander

Robert war ein guter Schüler und ein guter Fussballer. Er hat Fotos von sich auf Facebook gepostet: der Stürmer mit fliegenden langen Haaren, Fussballerbeine, Mannschaftsbilder. Aber dann kam der Kreuzbandriss. Und das Kiffen. Und alles geriet durcheinander. In der Sek sei ihm das Lernen leichtgefallen, sagt er. Aber im Gymnasium habe er es verpasst, sich etwas anderes anzugewöhnen, als immer nur im letzten Moment auf die Prüfung zu lernen.

Robert fiel ins Provisorium, dann durch die Matura. Er versuchte es ein zweites Mal, an einer Privatschule jetzt, scheiterte aber wieder. ICH MAG NÖD LERNE, ICH HANS SIT EM HALBE JAHR NÖD RICHTIG GMACHT, ES GAHT NÖÖD!!!!! ICH ZITTERE UND WIRD UNGEDULDIG WAS SÖLLICH MACHE??????, schrieb er damals auf Facebook. «Ich war einfach zu faul, Mann», sagt er heute. Statt zu lernen, hat er vom Erfolg geträumt. Sich diese Hollywoodfilme angesehen von Leuten, die aus schlechten Verhältnissen kommen und es mit Ehrgeiz nach oben schaffen. «Aber ich lebe in der Schweiz. Und aus so schlechten Verhältnissen komme ich auch nicht. Meine Eltern sind eingewandert aus Kroatien und dem Kosovo. Die hatten es schwer. Aber sie haben hart gearbeitet, damit ich ein gutes Leben haben kann. Und das habe ich doch auch.»

Er schaut einem kleinen Käfer zu, der seinen Arm entlangkrabbelt, will ihn wegwischen, lässt ihn weiterlaufen bis zur Spitze des beringten Zeigefingers, sieht ihm zu, wie er wegfliegt. «Ich hätte jemanden gebraucht, der mich antreibt.» Als eine Lehrerin meinte, er sei gut im Schreiben, fing er Feuer. «Ich hab mich mehr mit Sprache beschäftigt, mich in andere Welten geschrieben. Ich war oft in der Bibliothek, hab viel gelesen, geschrieben. Auch gekifft, ja … Alles war so megainteressant! Das Leben, keine Ahnung … das Leben interessiert mich … Ich habe Thomas Mann entdeckt. Seine langen Sätze haben mich fasziniert, den ‹Felix Krull› liebe ich. Ich dachte, ich kann das auch. Wenn man mich richtig schleift, wird aus mir ein schöner Diamant.»

Unauffälliger Befund

Am 2. April meldete sich einer der Psychiater bei der Staatsanwaltschaft mit der Nachricht, er habe den Beschuldigten jetzt zweimal besucht. Aus seiner Sicht bestehe keine Ausführungsgefahr. Trotzdem wurde Robert nicht aus der Untersuchungshaft entlassen. Am 11. April folgte der ausführliche Bericht der forensischen Psychiatrie. In dem Bericht, den das «Magazin» einsehen konnte, stand etwa «unauffälliger psychopathologischer Befund», «Stimmung nachvollziehbar nachdenklich», «keine Halluzinationen, Wahn- oder Ich-Störungen», «keine Hinweise auf eine anderweitige psychische Störung». Am 12. April, drei Wochen nach der Festnahme, war Robert endlich frei. «Das war geil, das pure Leben, Mann! Im Knast verlierst du den Sinn für die reale Welt. Als Erstes hab ich mir Zigaretten gekauft, dann bin ich mit einem fetten Smile im Gesicht durch die Welt gelaufen und habe alles aufgesogen, habe im Vorbeigehen so Pflanzen angefasst und gedacht: Ihr seid frei.»

Martino Mona, der Berner Strafrechtsprofessor, kann das Vorgehen in Roberts Fall nicht nachvollziehen: «Der Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl ist in der juristischen Begründung sehr mager. Straffälle sind zwar oft umstritten, aber in diesem Fall ist der Tatbestand der ‹Schreckung der Bevölkerung› offensichtlich nicht erfüllt. Zuerst stellt sich die Frage, ob Robert überhaupt je die Absicht hatte, jemanden in Schrecken zu versetzen. Wie seine Facebook-Freunde ohne weiteres erkennen konnten, handelte es sich bei dem Eintrag um einen Scherz. Diese ‹Drohung› war also überhaupt nicht geeignet, jemanden zu er­schrecken. Die Einzigen, die er damit hätte erschrecken können, wären unbeteiligte Dritte wie Polizei oder Schulleitung gewesen. Aber gerade diese hatte Robert nicht kontaktiert. Weil Robert seine Facebook-Freunde nicht erschrecken wollte und sie mit dieser Äusserung auch gar nicht hätte erschrecken können, kann hier schlicht kein Vorsatz konstruiert werden. Eine Person zu bestrafen, die nichts Unrechtes getan hat, lässt sich nur durch eine sehr fragwürdige Anwendung des Präventionsdogmas erklären.»

Damit der Tatbestand erfüllt gewesen wäre, hätte Robert die «Drohung» also öffentlich äussern müssen. Nur – ein Facebook-Profil ist nicht öffentlich einsehbar, sondern nur ausgewählten Personen zugänglich. Eine andere Frage ist, ob 290 Facebook-Freunde ausreichen für das Tatbestandsmerkmal «Bevölkerung». Vermutlich nicht. Und selbst wenn diese 290 der «Bevölkerung» entsprechen würden, dann müsste sich doch ein Grossteil davon bedroht gefühlt haben. Aber ausser dem Mädchen, das den Eintrag beim Lehrer gemeldet hat, fühlte sich offensichtlich niemand bedroht. «Einige haben den Eintrag sogar geliket», sagt Robert und grinst.

Das Urteil

Am 4. Dezember 2012 fand die Hauptverhandlung am Bezirksgericht Zürich statt. «Es war ein komisches Gefühl, vor dem Richter zu stehen», sagt Robert und zündet sich eine neue Zigarette an. «Ich dachte: ‹Der urteilt jetzt über dich, wendet so Gesetze an, die die Bevölkerung zusammenhalten.› Schon recht strange.» Roberts Anwalt hielt sein Plädoyer und forderte einen Freispruch. Robert durfte sich auch nochmals äussern, wiederholte, was er während der letzten drei Wochen oft genug erklärt hatte. Aber weder seine Worte noch das Plädoyer des Anwalts noch das Gutachten der Psychiater noch die Aussagen des Lehrers und seiner Familie konnten etwas ausrichten. Der Richter befand Robert für schuldig «der versuchten Schreckung der Bevölkerung im Sinne von Art. 258 StGB». Das bedeutete 1350 Franken Busse plus Verfahrenskosten von mehr als 13 600 Franken. «Ich dachte, das kann nicht sein. Es war doch nur Facebook.» Sein Anwalt riet ihm, das Urteil anzufechten.

Für Martino Mona wäre ein Freispruch zwingend gewesen. Der Richter und sein Gerichtsschreiber hatten zwar darüber nachgedacht, waren aber nach dem Studium der Akten zum Schluss gekommen, «dass es vom Gesetzgeber gewollt ist, dass man hier straft». Oder dass man ein Exempel statuiert? Dass man vor leichtsinnigem Umgang mit Social Media warnt? Nach den Gründen für sein Urteil befragt, beruft der Richter sich auf Amokläufe im Ausland. Bei den Tragödien in Deutschland und den USA habe es auch Ankündigungen in solchen Medien gegeben. Mit weit harmloseren Worten. Er lächelt. Das Wirre in Roberts Facebook-Eintrag sei verdächtig gewesen und der Grund für die Drohung «geradezu lächerlich. Drohen wegen zu wenig Geburtstagswünschen?» Er präzisiert: «Also, für einen normalen Menschen ist das lächerlich. Für einen Amokläufer kann das sehr ernst sein. Es gilt, weitere Amokläufe zu verhindern.» Professor Mona hält dem entgegen, dass es hier nicht um Amok gehe. Dass der Verdächtige eine solche Tat nie vorhatte, sei unbestritten: «Die Frage ist und bleibt, ob er jemanden erschrecken wollte oder erschreckt hat.»

Die 290 Facebook-Freunde setzt der Richter gleich mit «Bevölkerung». Und weil er Facebook als etwas sehr Leichtlebiges sieht, als einen Ort, wo wenig soziale Bindung nötig ist, um «Freundschaften» zu knüpfen, betrifft die Drohung seiner Meinung nach durchaus die Öffentlichkeit. Auch, dass innerhalb dieser «Öffentlichkeit» nur das Mädchen und möglicherweise der Lehrer erschreckt wurden, reiche aus, um den Tatbestand zu erfüllen: «Der Lehrer hat vielleicht andere Lehrer informiert, die Schüler vielleicht Eltern, das ist nicht zu kontrollieren.» Professor Mona: «Dass andere Roberts Äusserung weiterverbreiten könnten, kann nicht ihm angelastet werden. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass eine Äusserung sich möglicherweise verbreitet und irgendjemanden erschreckt. Und selbst dann müsste die Mehrheit einer relativ grossen Bevölkerungsgruppe erschreckt werden können, damit der Tatbestand der Schreckung der Bevölkerung erfüllt ist.»

Überforderte Justiz

Der Richter sagt, bisher gebe es sehr wenige schweizerische Gerichtsentscheide zu Fällen mit Social Media. Vor Robert gab es zwei Urteile, über die man in den Zeitungen lesen konnte: Ende 2010 wurde eine Frau zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt, weil sie auf Facebook jemanden beschimpft hatte. Im April 2011 erhielt ein Mann eine bedingte Geldstrafe, weil er auf Facebook einer Frau mit dem Tod gedroht hatte. Da er später auf der Plattform mit der Verurteilung prahlte, drohte ihm am Ende ein zweites Strafverfahren.

Gerichte im Ausland zeigen sich ähnlich hart wie hiesige: Der Engländer Paul Chambers wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er im Januar 2010 twitterte: SCHEISSE! DER ROBINHOOD-FLUGHAFEN IST GESCHLOSSEN. IHR HABT EINE WOCHE, UM DAS HIER WIEDER HINZUKRIEGEN, SONST JAGE ICH DEN FLUGHAFEN IN DIE LUFT! Er stand im Schneetreiben vor dem geschlossenen Flughafen von Doncaster GB und wollte seinen Ärger loswerden. Der High Court of Justice hat das erstinstanzliche Urteil später aufgehoben. Es sei objektiv nicht haltbar, dass sein Tweet einen bedrohlichen Charakter gehabt habe.

In den USA wurde letztes Jahr ein Ire am Flughafen verhaftet, weil er seiner Vorfreude auf einen Los-Angeles-Besuch etwas übertrieben Ausdruck verlieh. Er twitterte, er werde AMERIKA ZERSTÖREN und MARILYN MONROE AUSGRABEN, und meinte damit eigentlich nur, dass «er in L.A. extrem feiern wollte», wie er der US-Behörde erklärte. Sie steckten ihn für zwölf Stunden in eine Zelle.

Der Texaner Justin Carter geriet im Februar diesen Jahres mit Computerspielfreunden aneinander. Man beschimpfte ihn auf Facebook als IRRE, VERRÜCKT, TOTAL DURCHEINANDER IM KOPF. Seine Antwort: JA KLAR, ICH BIN WIRKLICH TOTAL DURCHEINANDER, ICH WERDE LOSGEHEN UND EINE SCHULE VOLLER KINDER ÜBER DEN HAUFEN SCHIESSEN UND IHRE NOCH SCHLAGENDEN HERZEN ESSEN. Um klarzumachen, dass das ein Scherz war, schickte er noch ein «LOL» und «JUST KIDDING» hinterher. Eine Kanadierin, die den Eintrag sah, fand das nicht lustig, googelte ihn, fand heraus, dass er in der Nähe einer Schule wohnte, und informierte die Behörden. Carter droht jetzt eine Gefängnisstrafe.

Martino Mona sieht unter anderem in der Unerfahrenheit der Justiz mit Social Media den Grund für diese unverhältnismässigen Urteile. «Viele wissen nicht, wie sie auf dieses Phänomen reagieren sollen. Darum tendiert man im Zweifel zur Überhärte. Und weil sich niemand dem Vorwurf aussetzen will, nicht rechtzeitig alles unternommen zu haben, um eine eventuell irgendwo lauernde Gefahr abzuwenden, dreht und wendet man die Gesetze so lange, bis man die gewünschte Strafe hat. – Was sind schon die Freiheitsrechte einer Minderheit von Beschuldigten im Vergleich zu den Rechten der sich vermeintlich bedroht fühlenden Mehrheit?»

Die Diskussion darüber, was die Gerichte müssen oder dürfen, wird auf den Schultern von Leuten wie Robert ausgetragen. «Was soll ich tun?», fragt er, schnippt seine Zigarette weg und schlägt ein Bein über das andere. In seiner Sonnenbrille spiegeln sich die Wolken. «Ich kann mich ja nicht wehren. Wie sollte ich auch.» Das Datum für die Berufungsverhandlung vor dem Obergericht steht noch aus. Robert glaubt nicht an einen Freispruch.  

 

Erschienen in "Das Magazin" des Tages-Anzeigers am 19. Oktober 2013

Bild: Christian Grund

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