Weniger Leidenschaft fürs Für und Wider

Unsere diplomatische Zurückhaltung mag in anderen Lebensbereichen löblich und hilfreich sein. Aber nicht im Filmschaffen. Dieses ewige Zögern kann nur mit mehr internationaler Zusammenarbeit überwunden werden.

Wenn man der Schweizer Filmszene ein Sprichwort zuordnen müsste, würde «Abwarten und Tee trinken» gut passen. Unsere diplomatische Zurückhaltung mag in anderen Lebensbereichen löblich und hilfreich sein. Aber nicht im Filmschaffen. Die Schweiz ist zu langsam. Man beobachtete, wie Netflix sich zum mächtigsten Streaming-Anbieter der Welt entwickelte. Und erst jetzt, wo der Kampf um den VoD-Markt global tobt, und wir Zuschauerinnen und Zuschauer uns längst an die Angebote aus dem Ausland gewöhnt haben, hat man auch in der Schweiz verstanden, dass die Zukunft des bewegten ­Bildes nicht nur im Kino liegt.

Es war ein langer Weg. 2007 legten Dänemark, Norwegen, Schweden und Deutschland los mit «Kommissarin Lund». Die Serie war der Anfang einer Reihe von europäischen Produktionen, die das Publikum mit neuen Erzählformen fesselten. 2010 folgte «Borgen», 2011 die bis jetzt unerreichte Krimiserie «Die Brücke». In der Schweiz gab man sich noch mit Seifenopern wie «Lüthi und Blanc» zufrieden. Ein Bekannter von mir, der in Oxford studierte, hat mir einmal erzählt, wie peinlich es gewesen sei, als seine Kommilitonen von all den britischen Serien geschwärmt und ihn dann gefragt hätten, was es denn aus der Schweiz zu entdecken gäbe. «Äh, ‹Der Bestatter› ist alles, was wir haben.»

Jetzt, wo Netflix wider Erwarten nicht wieder verschwunden ist und sich für das Schweizer Fernsehen mit «Wilder» bestätigt hat, dass die Serie das Format ist, das das Publikum sehen will, fängt man an, zu investieren, und zwar richtig. Laut Gilles Marchand, Generaldirektor der SRG, werden künftig 15 Millionen Franken pro Jahr in die Serienproduktion fliessen. Mein Kollege Andreas Scheiner berichtet in seinem Beitrag über den mit Verspätung endlich losgetretenen Serienhype bei SRF. Er hat die Dreharbeiten zu «Frieden» besucht, dem Grossprojekt über die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg. Petra Volpe, die das Drehbuch geschrieben hat, hatte während des Schreibens noch befürchtet, das Thema sei eine Nummer zu gross und zu politisch fürs SRF.

Warum klappt im Filmschaffen nicht, was bei Technologie und Naturwissenschaft normal ist? Dort gebärdet sich die Schweiz nicht zögerlich. Sie spielt eine Vorreiterrolle und gehört international zu den Ländern mit der aktivsten Forschungstätigkeit. Die ETH und EPFL haben den Anspruch, weltweit dauerhaft zu den besten Hochschulen zu gehören. Die Antwort ist: Naturwissenschaften gelten als rational und lukrativ, Kunst ist das Gegenteil davon. Unbestimmtes verträgt sich nicht mit unserem skeptischen Naturell. Mir fällt nur ein Ausweg ein, wie wir dieses ewige Zögern überwinden können: mehr internationale Zusammenarbeit. Lernen im Ausland. Wir brauchen Menschen mit anderen Mentalitäten, die uns Zauderern einen Tritt in den Hintern geben, bevor wir damit anfangen, mit Leidenschaft und Ausdauer das Für und Wider abzuwägen.

 

 

(Zuerst erschienen am 7. Juli im Filmmagazin «Frame», Editorial. Bild: «Zwingli», C-Films)

Zurück