Wenn aus Köpfen Köpfe wachsen

Ob in neuen Filmen wie «Spaceman» mit Adam Sandler, ob in der Werbung: Dank künstlicher Intelligenz erleben wir die Wiedergeburt des Surrealismus. Von Denise Bucher  

Ein Gesicht, das uns durch einen Mund anschaut. Handtaschen, so gross wie Lastwagen. Ob in der bildenden Kunst, der Werbung oder im Film: 100 Jahre nach seinen Anfängen ist der Surrealismus wieder da. Sinnbild ist das neue Netflix-Drama «Spaceman», in dem sich Adam Sandler als Astronaut mit einer philosophierenden Spinne anfreundet.

Ähnlich wie damals erleben wir auch jetzt wieder eine Zeit der politischen und sozialen Umbrüche. Und während sich die Surrealisten damals die neuen Medien Film, Fotografie oder gedruckte Werbeanzeigen zunutze machten, eröffnet heute die künstliche Intelligenz ungeahnte gestalterische Möglichkeiten.

Was seinerzeit in Ausstellungen gezeigt wurde, etwa von Salvador Dalí, war revolutionär und befremdend für das Publikum, sofern es sich hineinwagte. Heute, wo künstliche Intelligenz Fotografie und Malerei imitieren kann, sind wir umgeben von Bildern, die sich über die Realität erheben, sich der «Herrschaft der Logik» entziehen, wie der Schriftsteller André Breton es 1924 in seinem «Manifest des Surrealismus» beschrieb. Die menschliche Erfahrung «windet sich in einem Käfig, aus dem sie entweichen zu lassen immer schwieriger wird», schrieb er. Mit dem Surrealismus, hervorgegangen aus der Dada-Bewegung, brachen Künstlerinnen und Künstler aus dem Käfig der Realität aus.

Sie zweckentfremdeten die Fotografie und den Film, um das Figurative zugunsten des Abstrakten und Rätselhaften zu überwinden. Sie montierten Versatzstücke aus Werbeanzeigen zu grotesken Figuren und Landschaften. Heute geschieht dies von Neuem.

Was Surrealisten wie Salvador Dalí, Max Ernst, Frida Kahlo oder Hannah Höch, eine fast vergessene Künstlerin und Miterfinderin der Bildmontage, wohl zu den Gestaltungsmöglichkeiten von KI sagen würden? Alles nur hohle, eitle Spielerei? Für sie war das Überwinden der Realität durch die Kunst ein politischer Akt. Man wehrte sich gegen das Gleichförmige und Repressive der Bourgeoisie. Man wollte sich nach dem Ersten Weltkrieg die Welt neu zusammenbauen, sie neu interpretieren, Politik und Gesellschaft satirisch kritisieren, nicht nur abbilden. Verfremdung sollte die Sinne schärfen.

Lustvoller Bruch mit den Normen

Die KI-Kunst von heute mag oft nur nach buntem Nonsens aussehen; nach Eskapismus aus einer Welt, die nur noch bedrohlich und kaputt zu sein scheint. Ästhetische Tabus zu brechen, wie es damals geschah, ist heute schwierig. Und doch: Die neue Lust am Surrealen, Traumhaften, Phantastischen bedeutet auch ohne Manifest und politische Agenda den Bruch mit Normen: jene wie die gefilterte Instagram-Ästhetik und die immergleichen Posen dort. Die hyperästhetische Oberfläche von Mainstreamfilmen und -serien. Unsere Obsession mit Selbstoptimierung. All das verzerrt die KI-Kunst lustvoll. Während etwa in der Realität um die Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit gestritten wird, verschmelzen Körperteile in der KI-Kunst zu skurrilen Hybriden.

Beth Frey tut dies virtuos. Künstlerinnen wie sie bedienen sich der Bilderflut, die für alle online zugänglich ist, und transformieren sie. Von Neuem reaktiviert die Verfremdung unseren Sehsinn, die Phantasie und das Denken, weil man solche Bilder entschlüsseln muss: Was bedeutet das? Anders als bei rein abstrakter Kunst fragt man sich: Woher kommt das? Woran erinnert das? Eine der wichtigen Eigenschaften des neuen Surrealismus ist: Er holt uns, die wir Ungewissheiten längst nicht mehr aushalten, zurück zum produktiven Zweifeln.

Zurzeit geschieht dies gehäuft auch im Kino. Endlich wird man wieder überrascht von Phantasie und Witz. Dass «Everything Everywhere All at Once» zum Grosserfolg wurde, war 2022 ein erstes Anzeichen dafür, wie sehr das Publikum Originalität vermisst. Auch Filme der jüngeren Generation von Schweizer Filmschaffenden, etwa «Soul of a Beast» oder «Der Unschuldige», machen mit einer Vorliebe fürs Surreale und Traumhafte auf sich aufmerksam.

«Beau Is Afraid» von Ari Aster war ein dreistündiger Trip in angewandter Freud-Theorie. Die Ideen des Psychoanalytikers waren es, die den Surrealismus anstiessen. «Freuds Entdeckungen gebührt unser Dank», schrieb André Breton. Auf einmal hatte der Mensch nicht nur ein Bewusstsein und einen Verstand, sondern «Tiefen unseres Geistes», die «seltsame Kräfte bergen.» Folglich verdienten Bilder aus Traum oder Rausch künstlerische Aufmerksamkeit.

Heute amüsieren wir uns im Kino über Nicolas Cage, der in «Dream Scenario» unschuldig zum Geächteten wird, weil er in den Träumen von Tausenden Fremden zum Gewalttäter wird. Oder über die phantastische Welt, in der Yorgos Lanthimos seine Hauptdarstellerin Emma Stone in «Poor Things» ihr Ich entdecken lässt.

An der Berlinale stellte der Schwede Johan Renck sein Science-Fiction-Drama «Spaceman» vor: einen Film, dessen Sound und Bilder das Publikum in einen traumähnlichen Zustand versetzen, während es den Astronauten Jakub (Adam Sandler) auf seiner Mission zu einem Sternennebel beobachtet, derweil seine Frau (Carey Mulligan) ihn verlassen will. Jakub leidet an seiner Einsamkeit, bis plötzlich die Spinne Hanus (Paul Dano) in seinem Raumschiff sitzt und anfängt, mit sachter Stimme über das Leben und die Liebe zu philosophieren.

Johan Renck, der mit Videos für Robbie Williams, Lana del Rey oder Madonna berühmt wurde, drehte zwei Videos zum letzten Album von David Bowie. Zwischen «Spaceman» und dem Titeltrack «Blackstar» gibt es Gemeinsamkeiten. Das hypnotische Musikvideo ist inspiriert von Zeichnungen, die Bowie ihm gab. «Die eine zeigte ein Skelett in einem Raumanzug, die zweite eine Frau mit einem Raubtierschwanz, und die dritte . . . Verdammt, das habe ich vergessen», sagt Renck beim Gespräch in Berlin.

Sprache ist der Weg zum Bild

Ob Major Tom oder Jakub – Renck nennt den Astronauten «eine Ikone fürs Individuum.» Indem es sich von allem entfernt, findet es zurück zu sich selbst. So gesehen steht «Spaceman» für diesen neuen Surrealismus: Er verweist auf die Popkultur und bietet durch das Verfremden eine neue Verbindung zur eigenen Phantasie, zum eigenen Unterbewusstsein an. Renck sagt: «Menschen brauchen Kunst. Entweder, weil sie uns guttut oder uns geistig an Orte mitnimmt, die man noch nie besucht hat.»

Während sich im Filmgeschäft viele vor der KI als Jobkillerin fürchten, entstehen in der bildenden Kunst zuhauf solche neuen Orte und eine neue Ästhetik. Damit sind aber nicht unbeholfene Versuche wie die hyperrealistischen Fabrikate gemeint, auf denen Menschenhaut aussieht wie Plastik und Hände sechs Finger haben.

Gute KI-Kunst stammt von jenen, die bereits Künstlerinnen und Künstler sind. Denn wie vor gut hundert Jahren die Fotokamera, so setzt heute die Maschine nur das um, was der Mensch ihr vorgibt. Wer einen Sinn hat für Ästhetik und Inhalt, für Kunstgeschichte und Materialbeschaffenheit, für Licht, Schatten und Komposition, geht anders mit KI um als Laien, die als sogenannten Prompt eintippen: «Eine Katze im Raumanzug schwimmt in Milch, im Stil von van Gogh.» Ausser künstlerischem Talent ist ein reicher und präzise angewendeter Wortschatz vonnöten: Die Sprache als Ausdruck der eigenen Phantasie ist der Weg zum Bild.

Mittlerweile gelten gute «Prompts» als «Geheimrezepte» und werden sogar gehandelt. Auf der Website promptbase.com kann man für eine Handvoll Dollar solche Befehle für Midjourney und Dall-E kaufen. Aber das hat nichts mit KI-Kunst zu tun, wie Beth Frey, Alkan Avcıoğlu oder Felipe Posada sie erschaffen. Um nur einige zu nennen. Auf Instagram zeigen viele Künstlerinnen und Künstler, was sie mit KI anstellen. 2023 gab es in New York die «AI Surrealism»-Ausstellung. An der kommenden Kunstbiennale in Venedig wird man viel KI-Kunst antreffen.

Noch sind die Möglichkeiten für KI-generierte Bilder unbeschränkt. Aber es gibt Probleme zu lösen: jene von sogenannten Deepfakes, mit denen man beliebige Personen Beliebiges tun und sagen lassen kann, weit jenseits der Wahrheit. Und die Frage des Urheberrechts, weil die KI trainiert werden mit allem, was das Internet hergibt. Bis die Lösungen da sind, bleibt KI ein mächtiges Werkzeug auf dem Spielplatz für Kreativität. Gehen wir träumen, gehen wir rätseln.

 

Am 4.3.2024 in der «NZZ am Sonntag» erschienen. (Bild: Beth Frey)

 

 

(Am 6.7.2024 der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Erica Parise / Peacock TV LLC)

Zurück