Wenn der Elternabend eskaliert

«Armand» von Halfdan Ullmann Tøndel ist ein cineastischer Trip durch emotionale Extreme.

Elisabeth (Renate Reinsve) rast mit dem Auto durch einen Wald irgendwo in Skandinavien, sie telefoniert, gleich muss etwas Schlimmes passieren, denkt man. Aber in «Armand» geschieht nie das, was man erwarten würde. Elisabeth rast zur Schule, genervt, weil sie nicht weiss, warum sie zum Elterngespräch erscheinen soll. Es ist der letzte Tag vor den Sommerferien, schwülheiss, Kopfwehwetter. Ihr Sohn Armand... Was hat er diesmal angestellt? Elisabeths Sandalen poltern wie Cowboystiefel auf den Fluren des leeren Schulhauses, ihr Schmuck rasselt, alles an ihr sagt: Was soll der Scheiss?

Nach quälenden Minuten mit der Junglehrerin Sunna, vorgeschickt vom feigen Schulleiter, kommen wieder Schritte näher. Sie hallen Sarah und ihrem Mann Anders voraus, Jons Eltern. Wieder ist es, als ob sich Gefahr ankündigte. Um Bedrohliches wird es gehen, nur eben anders erzählt, als man es gewohnt ist. Die Lehrerin erklärt den Eltern, Armand habe Jon sexuell belästigt. Ein Sechsjähriger sollte so was tun? Elisabeth kann es nicht glauben. Aber Sarah besteht darauf. Nur der Vater hält sich raus. Will er sein Kind nicht verteidigen? Glaubt er seiner Frau nicht? Jon, so erfährt man später, hat auch ihm von dem Vorfall erzählt. Aber anders, als es Sarah der Schule zu Protokoll gegeben hat.

Das Faszinierende an «Armand» ist, wie der Regisseur seiner Geschichte Schicht um Schicht hinzufügt. Je höher dieses Relief wird, desto tiefer blickt man hinein in dieses Figurengefüge und versteht, worum es hier eigentlich geht: Was die Kinder taten, hat weniger mit ihnen selbst als mit den Erwachsenen und deren Unfähigkeit zu kommunizieren zu tun. Sie können es nicht, weil sie dem Reden zu lange das Verdrängen vorgezogen haben. Aber jetzt müssen sie reden.

«Armand» wird zum cineastischen Trip durch emotionale Extreme, aber ist trotzdem leichtfüssig erzählt. Ein Höhepunkt ist ein minutenlanger Lachanfall von Elisabeth, der im Weinen mündet. Sarah meint verächtlich, die spiele doch nur Theater, aber in Wahrheit ist die Schauspielerin als Einzige zu Empfindungen fähig. Sie wird in dieser Szene zum Medium für alles, was in den anderen vorgeht, die sich in Sachlichkeit verbeissen. Schliesslich sprengt die Anspannung auch den Rahmen des Films selbst. Dialoge reichen nicht mehr, die Geschichte platzt auf ins Irreale: Wenn Elisabeth auf dem Flur mit dem Hausmeister tanzt oder der Schulleiter mit Sarah ein Gespräch führt, aber sie plötzlich aus dem Bild verschwindet, dann übersetzt der Regisseur in Bild und Ton, was heimlich in den Figuren vor sich geht.

Roman Polanski hat mit «Carnage» auch mal einen Film über ein entgleisendes Elterngespräch gedreht. Doch sosehr die Figuren einander zerfleischten, der Humor schuf Distanz. «Armand» ist im Vergleich ein gnadenloses emotionales Gemetzel. In Andeutungen erzählt und deshalb umso intensiver. Bis zum Schluss, als das Wetter umschlägt und Regen in Strömen prasselt. Endlich sagen die Erwachsenen einander, was es zu sagen gibt. Wir hören es nicht durchs laute Rauschen des Wassers, aber verstehen trotzdem genug.

 

Erschienen am 24.11.2024 «NZZ am Sonntag». Bild: Eye Eye Pictures