Wenn der Mann das Opfer ist

Die Netflix-Serie «Baby Reindeer» sorgt für Aufregung. Dass wir eine so schwache Figur wie Donny nur schwer ertragen, hat mit unserem bis heute wirkenden Männlichkeitsbild zu tun.

Jetzt sag doch einfach mal Nein! Wehr dich endlich!, so möchte man Donny (Richard Gadd) immer wieder zurufen. Aber Donny, der Protagonist der Netflix-Serie «Baby Reindeer», wehrt sich nicht.

Er wird gestalkt von Martha (Jessica Gunning), die ihn bei der Arbeit in seiner Bar belästigt, seine Auftritte als Comedian stört oder bald Tag und Nacht vor seinem Haus lauert. Sie schickt ihm Tausende E-Mails und SMS und Sprachnachrichten, wirres Zeug und voller sexueller Anspielungen – aber es fällt ihm nicht ein, ihre Nummer zu blockieren. Stattdessen hat er Mitleid mit ihr, die psychisch krank und einsam ist.

Dann stellt sich heraus, dass Donny vor einiger Zeit sexuell missbraucht worden ist von Darren (Tom Goodman-Hill). Der Mann mit den guten Kontakten versprach ihm Unterstützung bei seiner Karriere als Comedian. Stattdessen machte er ihn sich mit Drogen gefügig. Donny war verstört und angeekelt, aber trotzdem klopfte der erfolglose Künstler immer wieder an Darrens Tür.

Eine männliche Hauptfigur ohne Selbstachtung, die ausgebeutet, manipuliert, gestalkt und vergewaltigt wird? So etwas kennt man kaum im Film. Dort sind Frauen die Opfer, daran hat man sich traurigerweise gewöhnt. Männer hingegen sind stark. Schwäche ist akzeptabel als Entwicklungsstufe hin zur Stärke wie im Coming-of-Age-Film. Oder wenn sie komödiantisch neutralisiert wird, wie etwa Woody Allen es von jeher tut.

Die Filmgeschichte hat uns gelehrt, dass Männer nicht so leicht die Kontrolle verlieren. Dass sie Demütigungen nicht einfach ertragen oder sich in Selbstzweifel oder gar Selbsthass flüchten. Stattdessen wehren sie sich und schlagen sich durch.

Ein wahrer Mann wehrt sich

Donny entspricht diesem klassischen Männerbild nicht. Das ist ein Grund dafür, warum «Baby Reindeer» so schwer erträglich ist. Die Serie zeigt schmerzhaft, wie stark dieses tradierte Bild immer noch wirkt, obwohl Männerfiguren inzwischen facettenreicher sein dürfen. Der zweite Grund ist: Das alles beruht auf wahren Begebenheiten.

Donny ist kein fiktiver Loser. Vielmehr verarbeitet Richard Gadd in «Baby Reindeer» seine eigenen traumatischen Erlebnisse – und er spitzt noch zu. So jämmerlich wie in der Serie seien seine Auftritte als Comedian in Wahrheit nicht gewesen, sagte er in einem Interview. Es ist, als ob Gadd seine erlittenen Demütigungen geradezu masochistisch zur Schau stellen würde.

Wieso tut er das? Um sich an seiner Stalkerin und seinem Vergewaltiger zu rächen? Um Aufmerksamkeit zu heischen? Diese Selbstzerfleischung macht «Baby Reindeer» zu einer wahren Nervenprobe. Und deshalb gibt diese Serie seit Wochen so viel zu reden.

Wer bis Folge 4 durchhält, bekommt eine Erklärung dafür, warum Donny seine Stalkerin nicht endlich anzeigt: Er lässt Martha die Herrschaft über sein Leben übernehmen, weil der Schmerz, den sie ihm zufügt, vom anderen, noch viel schlimmeren Schmerz ablenken soll, den die psychischen Folgen des sexuellen Missbrauchs durch Darren ihm bereiten.

So lässt er Martha seine Freundin Teri (Nava Mau) terrorisieren, bis sie es nicht mehr aushält und ihn verlässt. (Teri ist transsexuell, wie auch Gadds Freundin es damals war.) Erst als Martha damit droht, seinen Eltern etwas anzutun, ruft er die Polizei. Warum nicht schon vorher, um sich selbst zu schützen? Und warum hat er nie psychologische Hilfe gesucht?

Ganz einfach: Weil er als Mann doch stark zu sein hat, so lehrt es die Tradition. Die Polizei zu rufen, wäre ein Zeichen von Schwäche. Ausserdem würde ihm dort vielleicht dasselbe zustossen, wovor reale weibliche Opfer von sexualisierter Gewalt sich fürchten, weshalb sie damit zögern, Übergriffe zur Anzeige zu bringen: Er würde nicht ernst genommen. Denn welcher Mann fürchtet sich schon vor einer Frau? Und die Vergewaltigungen, wie soll er die je beweisen? Wozu also alles erzählen, wofür er sich schämt und was er verdrängt hat, wenn ihm doch niemand helfen wird?

Donny lässt die Stalkerin sein Leben immer weiter zerlegen, bis er sich endlich mit Worten wehrt: Eines Nachts erzählt er auf der Comedy-Bühne, was ihm zugestossen ist. Jemand macht ein Video, dieses geht viral, und endlich ist Donny nicht mehr allein.

Bis das Blut fliesst

So wenig man Donnys Verhalten versteht, so einfach lässt sich Martha hassen. Denn die anhaltende Wirksamkeit von Geschlechterklischees betrifft nicht nur den Mann, sondern auch seine Stalkerin. Auch sie entspricht nicht dem klassischen Bild, das der Film für Frauen geprägt hat. Sie ist übergewichtig und in ihren Vierzigern. Sie ist nicht die Manipulierte, das zu rettende «damsel in distress», sondern diejenige, die manipuliert und dabei aber nicht sexy aussieht. Nicht so wie Stalkerinnen aus älteren Filmen, etwa Glenn Close in «Fatal Attraction» oder die junge Alicia Silverstone in «The Crush».

Interessanterweise wurde der junge, schöne Stalker Joe in der Netflix-Serie «You» zum Hit und der Schauspieler Penn Badgley zum Sexsymbol. Wie ist das möglich? Joe ist ein Verbrecher, die Erzählperspektive ist jedoch seine, wir wohnen quasi in seinem Kopf und werden von ihm so manipuliert, dass wir wollen, was Joe will.

Er verfolgt Frauen obsessiv, die er zum Objekt seiner Begierde gewählt hat, er studiert sie, drängt sich in deren Leben, verführt sie. Wenn er von ihnen die Liebe nicht bekommt, von der er glaubt, sie stehe ihm zu, oder sich von ihr betrogen fühlt, dann bringt er sie um.

Anders als Donny hat Joe die totale Kontrolle. Über sich und alle anderen. Er ist ein echter Mann, und der darf auch mal so stark sein, bis Blut fliesst, das passt ins Bild. Aber ein schwacher Mann – das verstört die mittlerweile 22 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer von «Baby Reindeer» mehr als ein Serienkiller wie Joe.

 

(Am 11.5.2024 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Netflix)

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