Die Schweiz verpasst den Anschluss
Auf dem globalen Filmmarkt ereignet sich eine Revolution. Die Schweiz schaut zu, statt sich daran zu beteiligen.
«Es wird ein böses Erwachen geben, wenn wir jetzt nichts unternehmen», sagt Mischa Schiwow vom Filmverleih Frenetic. Sein Eindruck sei allerdings, dass die Schweizer Filmbranche abwarten und darauf hoffen würde, dass die Kinos bald wieder aufgehen und man dort weitermachen wolle, wo man aufgehört hat.
Aber das ist eine Illusion. 2020 ist die Filmwelt wegen Corona von der Realität eingeholt worden, vor der man zuvor die Augen noch verschliessen konnte. Jetzt wäre es angesagt, die Zukunft mitzugestalten, statt abzuwarten und zu beobachten. Das tut man in Europa, wie man dem «Nostradamus Report» 2021 entnehmen kann, der vom Göteborg Film Festival herausgegeben wird.
Die Autorin Johanna Koljonen schreibt, dass sich in den kommenden fünf Jahren die Gelegenheit biete, die Filmindustrie neu zu gestalten: Die Kinos müssen sich verändern. Die sogenannte Auswertungskette, die geregelt hat, wie lange ein Film im Kino laufen muss, bevor er im Fernsehen und schliesslich auf DVD oder auf einer Streamingplattform herausgebracht werden darf, wird obsolet. Wer sich nicht aktiv an der Neugestaltung beteilige, werde sich den Regeln der Mächtigen beugen müssen. Und: «Video-on-Demand (VoD) existiert nicht länger ausserhalb der Industrie. Es ist die Industrie.»
Auch Mischa Schiwow meint, die Schweizer Branche täte gut daran, wenn sich die verschiedenen Verleiher, Kinos und Streamingplattformen zusammentäten, um Kräfte zu bündeln. «Aber hier ist jeder für sich. Man betrachtet einander als Konkurrenten. Dabei stehen doch alle vor demselben Problem, nämlich, aufgeben zu müssen.»
Was müsste jetzt geschehen, damit die Schweiz die filmische Zukunft mitgestalten kann, statt hinterherzuhinken? Die Regisseurin Petra Volpe schlägt vor, dass der Bund eine Expertengruppe zusammenstellt, die sich auf dem internationalen Markt informiert und anschliessend beurteilt, wie das hiesige Fördersystem verändert werden könnte.
Das hat man beim Migros Kulturprozent gemacht und das Förderinstrument «Story Lab» gegründet. Dieses hilft bei der Finanzierung und Entwicklung vom Wichtigsten an einem Film oder einer Serie: dem Entwerfen einer guten Geschichte.
«Story Lab» für neue Formate
Das neue Förderinstrument «Story Lab» des Migros-Kulturprozent gewährt zwischen 7000 und 25 000 Franken Fördergelder. Man kann zweimal jährlich Projekte einreichen, ob für Kinofilm, Serie, Virtual Reality oder Game.
«Story Lab» gibt nicht nur Geld. Mentorinnen und Mentoren begleiten die Geförderten bei der Stoffentwicklung.
Beim BAK gibt es keine Förderung für diese erste Stufe mehr. Aber immer noch die Kommissionen, die von vielen in der Branche schon lange kritisiert werden. Weil hier Berufskollegen einander gegenseitig bewerten, ist Neutralität unmöglich. Es herrscht keine Transparenz über die Entscheidungen. Ausserdem fehlt die Betreuung, da die Gremien immer wieder neu zusammengesetzt werden. Petra Volpe würde sich wünschen, dass jeweils eine Person einen Film von Anfang an betreut.
Zu stark aufs Kino fokussiert
Mirko Bischofberger, Mitglied der Eidgenössischen Filmkommission (EFIK), sagt, Anfang 2020 wäre die Gelegenheit gewesen, um die dringend nötigen Anpassungen an die digitale Realität anzugehen. Jetzt sei der Zug abgefahren, die letzte Chance verspielt.
Sein EFIK-Kollege Kaspar Kasics hingegen ist der Meinung, es sei nicht am Bund, zu handeln, sondern vielmehr müssten jetzt Initiativen aus der Branche kommen. Aber wie soll sich diese Gruppe von Einzelkämpferinnen und Konkurrenten auf eine Idee einigen?
Wenn man sich umhört, stellt man immerhin in zwei Punkten Einigkeit fest. Einerseits rede man in der Schweiz zu selten darüber, was für ein Ziel man mit seinem Film verfolgt: Soll er möglichst viel Publikum ins Kino locken? Oder direkt auf einer Streamingplattform starten? Oder auf den Wettbewerb von grossen Filmfestivals abzielen? Je nachdem müsste das Projekt von Anfang an anders angegangen werden.
Andererseits müsste die Distribution so schnell wie möglich reformiert werden, weil das Fördersystem des Bundes zu sehr auf das Kino ausgerichtet ist. Dass das BAK von den Streamingplattformen 4 Prozent ihres in der Schweiz gemachten Umsatzes verlangen will, um die heimische Filmförderung zu unterstützen, ist ein Zeichen von Fortschritt.
Die Förderregelungen des Amtes hingegen sind nicht zeitgemäss. Erst seit 2021 sind Vergütungen für direkt auf VoD veröffentlichte Filme möglich. Ausserdem sind die Regeln für VoD-Starts sehr kompliziert und bedeuten für Verleiher ein Verlustgeschäft.
Ein Grund dafür ist, dass Schweizer Filme erfolgsabhängige Förderung erhalten, an der auch Verleiher und Kinos beteiligt sind. Das gilt aber nur für Filme, die im Kino anlaufen oder jetzt via eine Website eines Kinos gestreamt werden.
Absurd ist: Wenn man etwa «Mare» von Andrea Štaka direkt bei einer Streamingplattform wie Cinefile.ch anklickt, fällt die Vergütung weg. Für ausländische Filme wird die VoD-Auswertung noch nicht anerkannt. Das BAK beruft sich auf die Förderverordnung, die für vier Jahre gilt. Änderungen, die in der aktuellen Kulturbotschaft hätten enthalten sein sollen, wie die Pandemie jetzt deutlich gemacht hat, sind erst ab 2025 möglich. Entsprechend kommen Schweizer Streamingplattformen erst ab 2025 für Subventionen infrage, wie die Kinos sie erhalten.
Wie sehr wir uns mittlerweile ans Sofakino gewöhnt haben, konnte man jüngst an «Atlas» von Niccolò Castelli ablesen. Der Eröffnungsfilm der Solothurner Filmtage wurde von SRF ausgestrahlt, weil das Filmfest online stattfand. 100 000 Interessierte schalteten ein. Im Kino hätte das Drama um eine junge Frau, deren Freunde bei einem Attentat umkommen, einen Bruchteil an Eintritten geschafft.
Warten heisst verlieren
Nur ein paar tausend Eintritte – so ist es vielen der interessantesten Schweizer Filme der letzten Jahre ergangen, den Werken einer neuen Generation, die sich durch eine Eigenständigkeit auszeichnet, wie man sie seit vielen Jahren nicht gesehen hat. Wenn diese Generation ein internationales Publikum erhalten soll, das über Filmfestivals hinausgeht, dann ist sie darauf angewiesen, dass ihre Filme online erhältlich sind, statt für zwei Wochen in einem Kino zu laufen.
Was ist mit den Filmschaffenden, die für die Leinwand produzieren wollen? Es gehe jetzt nicht darum, was man selbst produzieren wolle, sondern darum, herauszufinden, was das Publikum verlange und auf welche Art und Weise es Filme oder Serien sehen wolle, liest man im «Nostradamus Report».
Es gilt, was Autorin Koljonen sagt: «Wer jetzt darauf fokussiert, die Dinge wieder so hinzubekommen, wie sie vor der Pandemie waren, wird zu den Verlierern gehören.»
Zuerst erschienen am 13.2.2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Contrast Film)