Wir sind alle selbst schuld

Die Serie «Years and Years» führt vor Augen, wie die Welt in fünfzehn Jahren aussehen könnte, wenn wir nichts tun gegen Entwicklungen, die sich heute schon abzeichnen.

Wie soll das bloss weitergehen? Das fragt man sich öfter, wenn man die Zeitung weglegt oder – wahrscheinlicher – vom Bildschirm aufblickt. Genau diese Frage liegt der britischen HBO-Miniserie «Years and Years» von Russell T Davies zugrunde, die 2019 beginnt und fünfzehn Jahre in die Zukunft blickt. Davies spielt durch, wie unsere Gesellschaft sich entwickeln könnte angesichts der zunehmenden Ungleichheit, des erstarkenden Populismus und Rassismus, der zunehmenden Homophobie, des Klimawandels und der zunehmenden digitalen Überwachung. Die Serie ist eine Achterbahnfahrt an spekulativer Fiktion, fühlt sich aber nicht an wie Science-Fiction, weil die Geschichte zu sehr in Diskursen und Problemen unserer Gegenwart verankert ist.

Im Zentrum steht die Familie Lyons, deren Oberhaupt ist die Urgrossmutter Muriel (Anne Reid). Man lernt sie in der in atemlosem Tempo erzählten ersten Folge kennen, die fünf Jahre in die Zukunft rast. 2020 wird Trump wiedergewählt, kurz darauf wirft er eine Atombombe auf eine Militärbasis vor China ab. Die nördlichen Polkappen sind geschmolzen, Putin hat die Ukraine annektiert, was unzählige Menschen zur Flucht zwingt. Einer von ihnen ist Victor (Maxim Baldry), der seine Heimat wegen des Kriegs und mehr noch wegen seiner Homosexualität verlassen musste. Er verliebt sich in einen der Lyons und wird Teil der Familie. Muriels Urenkelin Bethany lässt sich ein Smartphone in die Hand implantieren. Damit wird die Hackerin zu einer der wenigen, die sich gegen die Industrielle Vivienne Rook (Emma Thompson) wehren können. Rook – so blond wie Marine Le Pen, Donald Trump und Boris Johnson – weiss, wie man mit Big Data die Massen manipuliert, und gewinnt als Anführerin der populistischen «4 Stars»-Partei immer mehr Macht.

Es geschieht so viel in «Years and Years», dass manche der aufgegriffenen Themen sich verlieren oder nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die man sich erhofft hätte. Die Serie wirkt darum manchmal wie ein fiebriger Traum und ist insofern eine akkurate Reflexion unserer Gegenwart. Immer wenn das Erzähltempo etwas nachlässt, hat man Zeit, sich mit einer Welt vertraut zu machen, die man nach wie vor für undenkbar hält, weil man sich nicht vorstellen kann, wie einfach es ist, von Populisten verführt zu werden, die das Ende der Demokratie und damit weiter wachsende Ungleichheit herbeiführen könnten. In «Years and Years» teilen bald Zäune mit bewachten Durchgängen die Städte in Zonen, welche die Armen und Fremden – laut Rook Kriminelle – von den anderen fernhalten sollen. Immigranten werden in Lager gesperrt; mit Störsendern in der Nähe der Lager kappt Rook den Handyempfang. Isoliert und hilflos warten die Menschen auf ihre Ausschaffung. Es ist, als ob Davies mit Rook und den ihr gleichgesinnten Politikern Steve Bannons Traum wahr machen würde. Als dieser noch Trumps Berater war, sagte er einmal: «Bevor man eine Gesellschaft umformen kann, muss man sie zerstören.»

«Years and Years» führt vor Augen, wie einfach das sein kann. Voraussetzung ist, dass der anhaltende Alarmismus uns entweder gleichgültig oder ängstlich genug und dadurch empfänglich macht für die scheinbar einfachen Lösungen, mit denen Populisten uns umwerben – so wie eine der Lyons, die auf Rook hereinfällt und später die Konsequenzen ihres Tuns am eigenen Leib zu spüren bekommt.

Weil «Years and Years» so nahe an unserer Realität bleibt, ist die Serie erschütternd – all den schwarzhumorigen und sogar hoffnungsvollen Momenten zum Trotz. Die Frage ist, ob Davies sein Publikum damit zu Einsichten bringen kann, zu denen seine Figuren kommen. So erinnert die Matriarchin Muriel am Ende daran: Es liegt an uns, wie es weitergeht. Anderen die Schuld zu geben und zu glauben, das eigene Handeln habe nichts zu tun mit dem Geschehen auf der Welt, ist bequem und feige.


 

Erschienen am 4. August 2019 auf nzzas.ch

(Bild: HBO)