Wird Locarno jetzt zum internationalen Szenentreffpunkt?

Der erste Auftritt von Maja Hoffmann, der neuen Präsidentin des Filmfestivals Locarno, war schwach. Aber man wird sich wohl noch wundern. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Milliardärin das Festival revolutionieren wird.

Heute Sonntag, am Ende der 77. Ausgabe des Filmfestivals Locarno, stellt sich heraus: Die neue Präsidentin ist schon abgereist. Anderweitige Verpflichtungen. Hoffentlich ist das kein Omen, denn Locarno braucht Maja Hoffmann. Nach 23 Jahren der Präsidentschaft von Marco Solari und einem Programm auf der Piazza, das zeitgeistig der wenig anspruchsvollen Unterhaltung diente, ist eine Weiterentwicklung dringend nötig. Doch wie diese aussieht, ist nach Hoffmanns erster Ausgabe noch vage.

Jemand anderes hätte dieses Amt angetreten, indem er der Öffentlichkeit Ideen für grosse Projekte präsentiert, die Bedeutung der eigenen Gestaltungskraft hervorgehoben, geschillert hätte. Maja Hoffmann tut das nicht. Das macht sie für die einen suspekt, für die anderen sympathisch. Die sieben Milliarden schwere Roche-Erbin und Mäzenin ist so diskret, dass sie geheimnisvoll bleibt. Sie ist pressescheu, mag keine Kameras, wohnte in einem abgeschiedenen schicken Hotel in Ascona. Auf dem Festivalgelände erblickte man sie eher per Zufall, statt omnipräsent zu sein wie ihr Vorgänger Solari. Die Bühnen waren sein natürliches Habitat, Hoffmann fühlte sich dort sichtlich unwohl und überliess den Platz lieber schnell denjenigen, die einen der (sehr) vielen Preise verliehen bekamen. Was werden die Sponsoren denken?

Wenn Hoffmann sich Filme auf der Piazza ansah, dann wurde sie knapp vor Filmstart im Halbdunkel zu ihrem Platz begleitet. Beim Diner mit zwei Handvoll geladener Gäste wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, mit einer Rede aufzufallen. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, hat lieber ihre Familie um sich.

Das ist befremdlich. Als Präsidentin ist sie zwar für Strategie und Positionierung des Festivals zuständig, aber sie soll auch repräsentieren. Nadia Dresti, Vorstandsmitglied des Festivals und Leiterin des Industry-Beirats, nimmt sie in Schutz: «Maja Hoffmann ist keine Bühnenfrau, sondern jemand, der den Künstlern die Möglichkeit gibt, unter den bestmöglichen Bedingungen zu arbeiten und sich entwickeln zu können.»

Sie will verstehen, bevor sie Ankündigungen macht

Hoffmann, die abseits von Bühnen entspannt und uneitel wirkt, macht kein Geheimnis daraus, dass sie das Festival zuerst erleben will, bevor sie Entscheidungen trifft. Im kurzen Gespräch mit dieser Zeitung erzählt sie davon, wie sie es jetzt Sektion um Sektion kennenlernt. Und sie gibt ein erstes Versäumnis zu: «Nächstes Jahr komme ich drei Tage früher nach Locarno. Aber diesmal musste ich noch so vieles erledigen. Normalerweise bin ich im August in den Ferien, weil wir im Luma in Arles von Mai bis Juli sehr intensiv arbeiten.» Luma ist ihre Stiftung, zu der Forschungsstätten und ein Kunsthaus gehören, erbaut von Frank Gehry, frei zugänglich für die Bevölkerung, nicht gefüllt mit alten Meistern, sondern junger Kunst.

«Sie braucht jetzt Zeit», sagt Stefano Knuchel. Er ist Initiator von Basecamp, dem Programm für junge Kunstschaffende am Festival, und langjähriger Kenner desselben. «Sie betrachtet die Dinge nicht oberflächlich. ‹Ich muss verstehen, wie das funktioniert› ist ein Satz, den man von ihr oft hört. Niemand weiss, wie das Festival der Zukunft aussehen muss. Auch Maja Hoffmann nicht. Daran arbeiten wir gemeinsam. Das Festival ist ein komplexes Gebilde, darum wird man Veränderungen im Laufe der kommenden zwei, drei Jahre bemerken.» Hoffmann selbst sagt, wie wichtig es sei, sich jetzt nicht zu verzetteln.

Die Piazza Grande bleibt erhalten. «Aber die Art der Filme, die dort gezeigt werden, wird sich verändern, wie sie sich immer verändert hat», sagt Knuchel. «In den achtziger Jahren war die Piazza rebellisch, sehr cinephil.» Ob sie es wieder wird? Es täte Locarnos Profil gut. Gefälliges gibt es an anderen Festivals schon genug. Nach dem überraschenden Rücktritt der künstlerischen Leiterin Lili Hinstin 2020 geriet das Festival ins Schlingern. Ihr Nachfolger Giona A. Nazzaro bemüht sich seither um eine Linie mit Filmen, die allerdings oft auch zum «nischigen» Neuchâtel International Fantastic Film Festival passen würden. Hollywoodstars finden sich selten in Locarno, dafür war der von Fans kreischend bejubelte Auftritt des indischen Superstars Shah Rukh Khan die Sensation dieses Jahr.

Hoffmann hat die Aufgabe, auf dem aufzubauen, was Locarno ist, aber das Festival weiterzubringen, sprich, «neue internationale Partner heranzuziehen, um das, was wir mit den nationalen Partnern erreicht haben, zu stärken», wie es der Geschäftsführer Raphaël Brunschwig ausdrückt. Klartext: Man muss wachsen. Also, noch mehr Filme zeigen?

Türöffnerin für Geldgeber

Eher neue Geldgeber heranziehen, um das Niveau halten zu können. International relevant und kompetitiv zu bleiben, ist teuer. Auf mehr öffentliche Gelder kann das Festival nicht zählen – gerade hat die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) ihren Beitrag zur Sektion «Open Doors» um 25 Prozent gekürzt –, also müssen private Geldgeber her. Von solchen stammen heute 36 Prozent des Budgets von 18 Millionen Franken, Tendenz steigend. Die neue Präsidentin ist da eine Türöffnerin. Dank ihren Kontakten kann Locarno bereits auf die Bloomberg Philanthropies zählen, private Geldgeber aus New York, an die man ohne sie nur schwer herangekommen wäre.

Inhaltlich ist die naheliegende Frage, wenn eine Mäzenin und Kunstsammlerin das Filmfestival präsidiert: Wird dieses sich gegenüber anderen Kunstformen öffnen? «Das liegt eindeutig und überall in der Luft», sagt Hoffmann. «Es gibt dieses tiefe Bedürfnis danach, die Grenzen zwischen den einzelnen Komponenten der Kultur aufzulösen.» Es gebe nicht die Fotografie, die Malerei, den Film, sagt sie. «Ich habe das Gefühl, im Denken ein Stück weiter zu sein, weil ich Kunst so definiere, dass alles miteinander zusammenhängt.» Bei Luma in Arles würden sie von Kunst als einem «lebenden Organismus» reden. Locarno behält sein Filmfestival, aber es ist leicht vorstellbar, dass durch dessen Öffnung hin zu anderen Disziplinen aus dem provinziellen Städtchen ein kultureller Treffpunkt für eine internationale Szene werden soll.

Die Locarner Filmemacherin Laura Kaehr, die Hoffmann in Cannes kennenlernte, ist angetan von ihr, weil sie so viel über Kunst wisse und mit frischem Blick auf die alte Institution Locarno Film Festival blicke: «Hoffmann will den Ort revolutionieren, und es ist mir lieber, dass für einmal eine Frau Veränderung bringt und nicht wieder ein Mann.» Kaehr ist sich sicher, dass das Festival Veränderung dringend brauchen kann.

Aber wie werden Hoffmanns Revolutionspläne und «positive Provokationen», wie Brunschwig es nennt, bei Stadt und Kanton ankommen? «Es ist ein Test für unsere Region», sagt Stefano Knuchel. «Nach 23 Jahren mit Marco Solari geht es jetzt hin zu etwas anderem. Das kann Schwierigkeiten geben, aber Locarno ist ein internationales Festival, das müssen auch die Lokalen begreifen.» Es sei auch kein spezifisches Tessin-Problem. In der Schweiz hätten es Veränderungen und neue Ideen generell schwer. «Ich weiss es, weil ich mit Basecamp aufstrebende Talente betreue. Diese werden vorwiegend als Jugendliche wahrgenommen, die Lärm machen, und nicht als unsere Zukunft.»

Noch wirkt Maja Hoffmann fremd im Tessin. «Dass sie mächtig ist, mag auf manche einschüchternd wirken», meint Knuchel. Wohl darum und weil sie so diskret ist, begegnen manche ihr mit Skepsis oder lehnen sie ab. Aber es könnte sich mit ihr verhalten wie mit Ideen: Leute verstehen Neues dann, wenn sie Vorteile darin erkennen. Werden Hoffmanns Ideen zu gross sein? Der grösste Feind, den die Milliardärin in Locarno haben kann, ist Kleingeistigkeit.

 

Am 17.8.2024 in der «NZZ am Sonntag» erschienen. Bild: Gaëtan Bally / Keystone