Wo sind die Sexszenen hin?
Mit der leichten Verfügbarkeit von Pornografie ist das Mainstreamkino immer keuscher geworden. Der Erfolg von «Challengers» und «Poor Things» spricht dafür: Es ist höchste Zeit für mehr Erotik aus Hollywood.
Die Filmgeschichte ist voll von schlechten Sexszenen. Regen spielt dabei oft eine Rolle. Es folgen Close-ups von Haut, weiches Licht, kitschige Musik, die Frau stöhnt, der Mann vielleicht, und nach ein paar Sekunden ist vorbei, was immer sich unter dem Keuschheitslaken abgespielt haben mag, das die Frauen sich postkoital sofort unter die Achseln klemmen. Sollte es in einer Sexszene nicht um Romantik, sondern um die Befriedigung von (verbotener) Lust gehen, signalisieren das Abweichungen von der Missionarsstellung.
Etwa so sieht typischer Mainstreamkino-Sex aus. Oder so sah er aus, denn es gibt ihn kaum noch. Laut Statistik sind Sexszenen seit dem Jahr 2000 um 40 Prozent weniger geworden. In den Neunzigern gab es mit Abstand am meisten Filme, die Jugendliche entweder gar nicht oder nur in Begleitung von Erwachsenen im Kino sehen durften. Mittlerweile ist es eher so, dass Erwachsene sich Filme ansehen, die eigentlich für Kinder gemacht sein könnten.
Gute Sexszenen waren zwar schon immer rar , aber seit sich das Mainstreamkino, das dominiert ist von amerikanischen Produktionen, der Erotik und Sinnlichkeit quasi entledigt hat, ist ihm etwas sehr Menschliches abhandengekommen. Wenn Körperlichkeit, dann existiert diese dort fast nur noch im Kontext von Gewalt. Wenn man Haut sieht, dann oft blutverschmierte. Körper sind da, um zu kämpfen, um entweder stark zu sein oder verletzt oder zerstört zu werden. Oder um in Superheldenanzügen zu stecken. Das ist langweilig.
Generation Z will Freundschaft statt Sex
Ein Grund für das Sterben der Kino-Sexszenen ist die Streaming-Technologie. Erstens hat diese die Pornografie so einfach verfügbar gemacht, wie sie es noch nie war. Niemand braucht zum Zweck der Erregung mehr Filme wie «9½ Weeks» oder «Fatal Attraction». Dafür haben wir jederzeit Youporn usw. zur Hand.
Zweitens liess das Streaming bekanntlich das Kinopublikum schwinden. Folglich wollen die Produktionshäuser nicht unnötig Altersgruppen ausschliessen und lassen Nacktheit und Sex für bessere Zahlen lieber weg.
In der Folge haben Liebe, Sexualität und Erotik bei den Streamingplattformen ein neues Zuhause gefunden. – Und das ist offenbar nichts, was die Generation Z interessieren würde: Laut einer Untersuchung von «Teens and Screens» von 2023 wünscht sich die junge Generation in Film und Serien Geschichten, die von Freundschaft und platonischen Beziehungen handeln. Sex ist nur eine unwichtige Nebenerscheinung.
Die Wünsche der Gen Z sprechen von einem Bedürfnis nach Intimität im Sinne von Vertrauen und Nähe. Verwunderlich ist das nicht. Die jungen Menschen wachsen in einer Zeit der Ungewissheiten auf, gerade auch, was den eigenen Körper betrifft. Da ist die leicht verfügbare Pornografie, die Unerfahrenen ein kaltes und falsches Bild von Sexualität vermittelt.
Hinzu kommt die #MeToo-Bewegung. Seit offen darüber diskutiert wird, wie viel Sexualität, Gewalt und Macht miteinander zu tun haben und wie undeutlich die Grenzen sein können, ist nichts mehr so einfach, wie es früher zu sein schien. Geschlechterbilder formen sich um, «Gender» ist für die Älteren ein Reizwort, für die Jüngeren ein Experimentierfeld.
Aus der Unlust auf die klischierten alten Sexszenen folgt, dass Film und Serien nach neuen Formen des Erzählens verlangen, was an sich nicht schlecht ist. Zurück zu «Basic Instinct» oder «Cruel Intentions» wollen wir ja nicht wirklich. Dann lieber «Saltburn» oder «Love Lies Bleeding».
Wenn es Sexszenen gibt, dann sollen diese originell sein, der Handlung und den (nicht zwingend heterosexuellen) Figuren dienen, so wünscht es sich die Gen Z laut der Umfrage.
Originell, wie sie etwa Yorgos Lanthimos in seinem phantastischen Coming-of-Age-Film «Poor Things» erzählt. Diese Sexszenen sind zwar grotesk, aber trotzdem gut, weil sie wesentlich mit der Hauptfigur und ihrer Selbstfindung zu tun haben und darum notwendig sind. Schlechte Sexszenen lassen sich aus dem Film entfernen, und es ändert sich nichts. Würde man sie aus «Poor Things» rausschneiden, wäre die Geschichte kaputt.
Yorgos Lanthimos, der sich vom griechischen Low-Budget-Film nach Hollywood vorgearbeitet hat, gehört heute zu einer Gruppe Arthouse-Filmschaffenden, die dem erkalteten Mainstreamkino etwas entgegenhalten, indem sie auf neue Weise von Sexualität und Sinnlichkeit erzählen. Was Lanthimos, Claire Denis, Julia Ducournau, Emerald Fennell, Rose Glass oder Park Chan-wook gemeinsam haben, sind Wurzeln im Genrefilm. Sie haben keine Angst vor Körpern als sexuellen und auch gewalttätigen Organismen und wissen diese in ihrer ganzen Pracht oder auch widerlichen Abgründigkeit zu inszenieren.
Alles ist Metapher
Hinein ins Mainstreamkino haben es bisher aber nur zwei geschafft. Yorgos Lanthimos und Luca Guadagnino. Die Gen Z müsste den Italiener lieben: Er beschäftigt sich mit Identitätssuche, Adoleszenz und queerer Liebe, ob in «Call Me by Your Name», «Bones and All», seiner Serie «We Are Who We Are» oder jetzt in «Challengers».
Der Film spielt auf Tennisplätzen und in Hotelzimmern, aber es ist kein Tennis- und auch kein traditioneller Erotikfilm. Sondern besser. Guadagnino benützt den Sport für ein schelmisches Spiel um Begehren, Macht, Ehrgeiz und Sex zwischen Tashi (Zendaya), Art (Mike Faist) und Patrick (Josh O'Connor).
«Challengers» ist durchströmt von einer offensiv sexuellen Energie, besonders zwischen Art und Patrick. Alles wird zur Metapher, ob Tennis, ein Bagel oder Churros. Vieles bleibt Andeutung. Die beste Sexszene in diesem Film ist die, die er uns am Ende vorenthält. Dies gelingt nur, weil Guadagnino so virtuos vom Wollen erzählen kann, dass das Bekommen dagegen nur noch fahl wäre. Der Sex, den er tatsächlich zeigt, ist dazu da, um von Tashi sabotiert zu werden. Das ist böse und einmal sehr lustig, weil das eigentliche Paar die beiden Männer sind. Sie brauchen nur etwas Zeit, um das zu kapieren.
Guadagninos Filme, wie auch jene von Yorgos Lanthimos, Claire Denis oder Park Chan-wook zeigen: Es braucht Phantasie und auch Humor, um wahrhaftig von Sexualität und Intimität zu erzählen. Ob die Körper dabei nackt sind oder nicht, ist bei virtuosen Erzählern wie ihnen nicht wichtig. Man spürt so oder so, was die Figuren spüren: Verlangen, Liebe oder einfach Spass an der Lust.
Genau das ist es, was im Blockbusterkino zum Tabu geworden ist. Dabei spricht der Erfolg von «Challengers» und «Poor Things» doch sehr laut dafür: Es ist höchste Zeit für mehr Erotik im Mainstreamkino.
(Am 4.5.2024 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: MGM)