«Wozu sind wir fähig, wenn wir uns entscheiden, für ein faschistisches System zu leben?»

Christian Friedel spielt in «The Zone of Interest» den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss. Ein Gespräch zum Filmstart über das Verdrängen, Deutschlands Diskussionskultur und den Umgang mit Verwandten, die mit der AfD sympathisieren.

Wenn man sich auf die Rolle des Rudolf Höss vorbereitet, den Aufseher des KZ Auschwitz, wird man da nicht überwältigt vom Grauen?

Die Vorbereitung für diesen Film war ein bisschen anders, weil wir keine Biografie drehen und diese Menschen auch in keiner Art und Weise auf einen Sockel stellen wollten. Natürlich kamen die Bilder in mir hoch, die man seit der Befreiung von KZ kennt und mit denen wir in der Schule aufgewachsen sind. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Höss zur Arbeit gegangen ist, ohne diese grässlichen Bilder im Kopf zu haben.

Trotzdem tat er jeden Tag die paar Schritte von seinem Haus hinüber ins KZ zur Arbeit.

Das finde ich so wahnsinnig. Wie weit der Mensch bereit oder fähig ist zu gehen und dabei das, was er eigentlich tut, ganz tief in sich zu vergraben. Der Film zeigt, dass diese Wahrheit immer wieder in Höss hochkommt und in seinem Körper abgespeichert ist.

Warum wollten Sie diesen Mann spielen?

Ich fand das Buch von Jonathan Glazer grossartig. Als ich ihn das erste Mal traf und er von seiner Vision erzählte, habe ich sofort gemerkt, dass ihm dieses Projekt absolut wichtig ist. Da wollte ich ein Teil davon sein. Er hat mich und Sandra Hüller dann dazu eingeladen, gemeinsam mit ihm herauszuarbeiten, wie man diese Menschen möglichst in ihrer Natürlichkeit, auch ihre Menschlichkeit, zeigen kann.

Menschlichkeit?

Wie sie verdrängen, um sich mit diesem System zu arrangieren. Es war eine Suche und sehr intensiv, weil diese grauenhaften Bilder immer wieder in mir hochkamen und ich sie wegdrängen musste. Es war, als ob auch mein Körper sich dagegen gewehrt hätte.

Also, warum wollten Sie ihn spielen?

Mich hat überzeugt, dass man eine bittere Wahrheit zeigt: dass es normale, sogar langweilige Menschen waren, die diese Verbrechen an anderen Menschen begangen haben. Ich glaube, das ist eine grosse Frage: Wozu sind wir fähig, wenn wir uns entscheiden, für ein faschistisches System zu leben und dieses auch selbst für unsere Zwecke zu nutzen.

Indem man die Wahrheit verleugnet?

Hedwig Höss hat später immer wieder gesagt, sie habe von nichts gewusst. Aber ich stand selbst in ihrem damaligen Haus. Du kannst von dort über die Mauer schauen und siehst Gaskammer 1. Sie kann nicht sagen, sie habe von nichts gewusst.

Im Film kann sie es auch deshalb nicht nicht wissen, weil man Tag und Nacht die Schreie der Häftlinge, Schüsse, Hundegebell und vor allem ein Dröhnen und Wummern dieser Öfen hört.

Jonathan macht die Verbrechen mit diesem Sounddesign spürbar. Er wollte sie nicht zeigen, wollte sich keine ausgemergelten Komparsen und Komparsinnen holen und versuchen, die Bilder, die wir kennen, zu rekonstruieren. Trotzdem erzählt der Film von der Brutalität der Menschen innerhalb dieses faschistischen Systems.

Sagte er deshalb, es sei kein Film über damals, sondern über heute?

Es geht um eine Wahrheit, die zeitlos ist und die in allen Menschen steckt, da bin ich mir sicher. Es ist wurscht, wo wir herkommen, woran wir glauben. Es ist eine menschliche Eigenschaft, dass wir Dinge ausblenden können, und dies bis zu einem absolut unfassbaren Grad. Das ist für mich die Hauptmessage dieses Films. Darum ist es ein moderner Film.

Für mich ist «The Zone of Interest» wie eine Warnung gegen das Vergessen. Es fängt schon an mit der Titelschrift, die sich, wie Rauch oder Asche, einfach in einem schwarzen Nichts auflöst.

Wir haben die Verantwortung, gegen das Vergessen zu arbeiten. Der Holocaust war, glaube ich, das Maximum an menschlicher Dunkelheit. Dass Jonathan mit dem Schwarz beginnt, ist wie ein Löschen. Trotzdem darf man die Hoffnung nie aufgeben, dass wir fähig sind, aus unserer Vergangenheit und unseren Fehlern zu lernen. Aber gerade in diesen Zeiten sollten wir uns überlegen, welche Entscheidungen wir treffen. Oder wem wir bei den Wahlen unsere Stimme geben. Wenn ich sehe, wie Faschismus und Antisemitismus wieder zunehmen . . .

Es ist, als sei seit dem Überfall der Hamas auf Israel etwas aufgebrochen in Deutschland.

Wir haben oft Diskussionen in der Familie und auch im Freundeskreis. Dann merke ich manchmal, dass Menschen, die mir nahestehen, sich überlegen, den Weg zu gehen, den diese rechte Partei als Lösung anpreist, aber ohne die Konsequenzen zu überdenken.

Warum tun sie das?

Das Sympathisieren geschieht aus Angst oder Frust. Sehr oft auch, weil jemand unglücklich ist mit seinem Leben. Aber ist das Grund genug, um eine solch gefährliche Wendung herbeizuführen? Dass Menschen aus meinem engsten Bekanntenkreis so denken, hat mich erschreckt.

Was geschieht, wenn diese Bekannten und Verwandten Sie nun in der Rolle des Rudolf Höss im Kino sehen?

Ich hoffe natürlich, dass sie die Botschaft des Films verstehen: Wir sind verantwortlich dafür, was für Werte wir unseren Kindern weitergeben. Ausserdem sehe ich den Kinobesuch als eine Art der Begegnung. In der heutigen Diskussionskultur ist es ganz oft so, dass es nur zwei Seiten gibt. Ich sehe mich da ein bisschen in der Vermittlerrolle, weil ich sage, ich höre den Menschen zu.

Immer?

Soweit es geht. Aber ich kann es nicht mehr akzeptieren, wenn jemand sagt, mir ist klar, dass es in der AfD rechtsradikale Strömungen gibt, aber man sie dennoch wählen will. Dann ist bei mir der Dialog zu Ende.

Haben Sie Angst?

Wir haben zum Glück ein gutes Rechtssystem. Da kann jemand nicht so einfach die Macht übernehmen und Gesetze aushebeln. Aber es darf nicht so weit kommen, dass man aufs Rechtssystem hoffen muss. Eher müssen die politischen Kräfte wieder gestärkt werden. Die aktuelle Politik ist schwach, weil sie ein Kompromiss aus drei Parteien ist, die nicht zueinanderfinden und schlecht kommunizieren. Das führt dazu, dass die Leute sich ausgeschlossen fühlen. Dieses Gefühl hatte wohl auch das Ehepaar Höss. Bis es die Möglichkeit bekam, jemand zu sein. Sie haben sich gesagt, wir bauen uns ein Haus und einen schönen Garten, nehmen uns die Habseligkeiten der Gefangenen und machen uns ein schönes Leben.

Wie viel mussten Sie über den realen Höss wissen, um ihn spielen zu können?

Das Drehbuch war unglaublich präzise. Jonathan hat mit seinem Team sechs Jahre lang investigativ gearbeitet, auch mit dem Museum in Auschwitz. Ich fand es interessant, in Aufnahmen des Nürnberger Prozesses seine Stimme zu hören und ein bisschen reinzulesen in seine selbstgeschriebene Biografie, um ein Gefühl für diese Person zu bekommen.

Sandra Hüller sagte, sie habe Hedwig nichts gegeben beim Spielen. Wie war das bei Ihnen?

Sandra ist sehr äusserlich an die Rolle rangegangen. Das war für sie auch eine neue Erfahrung. Ich habe versucht, ihr da zu folgen. Sie ist sowieso eine gute Freundin und Inspiration für mich. Aber ich habe gemerkt, dass es manche Szenen gab, wo mir das nicht gelungen ist.

Wieso?

Ich musste die Figur dann doch irgendwie mit meinem Gefühlsarchiv verbinden. Dann, wenn Höss von seinem Pferd Abschied nimmt, bevor er versetzt wird, oder wenn er seinen Kindern die Liebe zur Natur weitergeben will. Auch wenn ich mich selbst nicht zeige, gebe ich der Figur trotzdem etwas mit. Gut war, dass Jonathan wollte, dass man den Täter nie bei irgendeiner Tat erwischt und dass man nie erfährt, was er wirklich denkt.

Tatsächlich bleibt der einem immer auf Distanz, eine Kälte geht von ihm aus. Aber wie machten Sie das?

Jonathan sagte zu mir: Wenn du die Wahrheit sprichst, dann lüg mit den Augen. Und wenn deine Augen die Wahrheit sprechen, dann lüg mit dem Mund. Ich kann wirklich sagen, dass Sandra und ich dieses Ehepaar Höss aus tiefstem Herzen hassen.

Kann man so eine Figur nach Feierabend einfach so abschütteln?

Manchmal fiel das nicht leicht. Die Arbeit war doch intensiver, als ich dachte. Familiäre Alltagssituationen, von denen es im Film viele gibt, sind schauspielerisch nicht so kompliziert, aber genau das war es eben, was es ausmachte: diese Banalität und Normalität. Es ist, wie der Regisseur Michael Haneke sagte: Normalität ist das Schwierigste, was man darstellen kann.

Ist das ein Film für jüngere Generationen? Laut Erhebungen nimmt das Wissen über den Holocaust ab.

Selbst wenn man diese Bilder nicht im Kopf hat, vermittelt uns allein das Sounddesign, dass da etwas nicht stimmt. Aber man muss sich darauf einlassen können. Das ist ein Film, der nicht unterhält, sondern auf den man reagiert. Vielleicht inspiriert er manche dazu, mehr über die Naziverbrechen wissen zu wollen. Wenn man in Dokumentarfilmen die Bilder sieht, die die Russen damals bei der Befreiung des Lagers aufgenommen haben, dann wird unser Film noch ekelhafter.

Problematisch ist allerdings, wenn man sich auf Netflix weiterbildet und glaubt, der Zweite Weltkrieg habe so ausgesehen wie in den Filmen und Serien, die «auf wahren Begebenheiten beruhen». Das sind fast nur reproduzierte Klischees.

Mit der schwarzen Leinwand am Anfang löscht Jonathan Erwartungshaltungen. Er spielt mit Klischees, er wiederholt sie nicht. Er tritt nicht in die Fallen, die sich aufmachen bei Filmen über den Holocaust. Wenn ich sehe, wie viele Kollegen und Kolleginnen Nazi-Rollen spielen und auch in diese Fallen tappen . . . Nazis sind dankbare Bösewichte, sie werden gern als geborene Teufel gezeigt. Aber ich finde das langweilig, weil mit dem Gut-Böse-Schema den Leuten das Denken und das Fühlen weggenommen wird.

Ständig kommen neue Filme und Serien über den Zweiten Weltkrieg raus. So wird das Grässliche doch zu popkultureller Unterhaltung.

Sicherlich ist es gefährlich, wenn es nur zur Unterhaltung dient. Darum bin ich froh, dass «The Zone of Interest» jetzt so viel Aufmerksamkeit bekommt, als anspruchsvoller Film jenseits vom Popcorn-Kino. Vielleicht werden sich manche in unserem Business der Verantwortung wieder stärker bewusst, die man der Geschichte gegenüber eigentlich hat.

Hätten Sie Höss gespielt, wenn man sehen würde, was er tut?

Das ist eine sehr gute Frage. Also, das wäre ja dann sozusagen «Schindler’s List» . . . Bei Spielberg würde ich immer mitspielen, und damals hätte ich wohl zugesagt. Aber jetzt, mit den Erfahrungen, die ich gemacht habe mit Jonathan, würde ich es nicht mehr machen.

Werden Sie wieder einen Nazi spielen? Höss war nicht Ihr erster.

Ein Angebot für eine Hollywood-Verfilmung eines solchen Stoffes habe ich sofort abgesagt. Mir wurde auch schon die Rolle des Hitler angeboten. Aber auch das lehnte ich ab. Man kann diese Person nicht ernsthaft spielen, wie beispielsweise Bruno Ganz es in «Der Untergang» versuchte. Die beste Interpretation ist jene von Charlie Chaplin in «The Great Dictator».

 

(Am 28.2.2024 der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Kevin Winter / WireImage / Getty)

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