«X & Y»: Ist das jetzt gespielt oder echt?
Die schwedische Künstlerin Anna Odell demontiert mit ihrem Kunstfilm Geschlechteridentitäten. Ein extremes und humorvolles Experiment in der Intimsphäre, wie man es im Kino noch selten gesehen hat.
«X & Y» hätte eine peinliche Übung in Selbstbespiegelung werden können. Aber wenn die schwedische Künstlerin Anna Odell öffentlich über sich selbst nachdenkt, dann tut sie das nicht, um sich zur Schau zu stellen, sondern weil sie grundsätzlich Menschliches ergründen will, das mehr mit uns allen als nur mit ihr allein zu tun hat.
Sie nennt «X & Y» ein «soziales Experiment», und das geht so: Odell, die Performancekünstlerin, die jede Grenze überschreitet, und Mikael Persbrandt, in Schweden der Inbegriff des Frauenhelden, verbringen mehrere Wochen zusammen auf einem Filmset.
Das Ziel ist es, ihre beiden Persönlichkeiten zu demontieren, bis nur noch das Animalische übrig bleibt. Für diese Demontage spielen sechs Kolleginnen und Kollegen, alle bekannt aus dem dänischen und dem schwedischen Kino, je verschiedene Aspekte von Odells und Persbrandts Persönlichkeit. Seine Rolle zu verlassen, ist verboten.
Odell sagt den Beteiligten, man probe hier für einen Film; die Arbeit, die wir auf der Leinwand sehen, ist zugleich das Resultat davon. Wir beobachten, wie ihre verletzlichen, dominanten, sinnlichen oder rationalen Alter Egos auf engstem Raum miteinander auskommen müssen. Und weil Menschen nicht viel mehr als Tiere mit Verstand sind, dreht sich sehr viel um Macht und Begierde.
Auf einer Metaebene demontiert Odell auch ihre Rolle als Regisseurin: Sie muss sich vor ungeduldigen Produzenten rechtfertigen und ihr Team drängt sie dazu, endlich das verdammte Drehbuch zu schreiben.
Bald blickt man aus der Vogelperspektive auf dieses Testgelände für menschliches Verhalten hinunter, bald ziehen einen Close-ups mitten hinein in intime Momente, ob Streit oder Sex. Und nie weiss man: Ist das jetzt gespielt oder echt?
Das ist ein genialer Kunstgriff. Odell schützt damit ihre eigene und die Persönlichkeit von Persbrandt, die sich hier zum Versuchsobjekt machen.
«X & Y» wirkt nie wie eine narzisstische Übung. Es geht vielmehr um die Dekonstruktion der Bilder, die die Öffentlichkeit von den zwei Stars hat, eine Dekonstruktion von Vorurteilen also, die man der angeblich neurotischen Künstlerin und dem vermeintlichen Alpha-Männchen gegenüber vielleicht als Zuschauerin auch selbst hat.
Wenn «X & Y» endet, ist das Experiment noch nicht vorbei: Odell, die im Film ein «Kunst-Baby» will, geht schwanger vom Set. Inzwischen ist sie Mutter geworden. Ist Persbrandt der Vater? Wir werden es nie erfahren.
Erschienen am 12. September 2019 auf nzzas.ch
(Bild: Outside the Box)