Zürich fördert Kultur, als lebten wir noch im 19. Jahrhundert

Stadt und Kanton Zürich versprechen Innovation und Vielfalt in der Kulturförderung. Zahlen zeigen aber: Sie vertreten ein so traditionelles Bild von Kultur, dass sie an den Bedürfnissen des Publikums vorbei subventionieren.

Die Stadt Zürich rühmt sich in ihrem Kulturleitbild als «modern und zukunftsorientiert». Sie verspricht, in ihrem «kulturellen Selbstverständnis Tradition und Innovation zu vereinen» und «das Potenzial der Zürcher Kultur zu stärken und künstlerische Weiterentwicklungen zu fördern». Aber wird die Stadt der eigenen Aussage gerecht? Und der Kanton, der sagt, Konzerte, Ausstellungen oder Theater würden «Gelegenheiten schaffen, um anderen Menschen, Lebenswelten und Kulturen zu begegnen»?

Wenn man sich die Verteilung der zurzeit 140 Millionen Franken (Stadt) und 175 Millionen (Kanton) an Kulturausgaben anschaut, dann fällt auf, dass Zürich entgegen der Selbstbeschreibung einem traditionellen, ja altmodischen Kulturbild anhängt – und entsprechend fördert. Es ist ein Bild, das auf die Unterscheidung zwischen Hochkultur für die Elite und Populärkultur für die Masse zurückgeht; auf das späte 19. Jahrhundert also, als das Bildungsbürgertum die Hochkultur für sich als Distinktionsmerkmal entdeckte.

Und so erhalten auch heute noch das Zürcher Kunsthaus, das jüngst ein grosses Defizit auszuweisen hatte, das Zürcher Opernhaus und das Schauspielhaus Zürich mit Abstand am meisten Geld von Stadt und/oder Kanton. Opernhaus: 89,3 Millionen. Schauspielhaus: 41,7 Millionen. Tonhalle-Orchester Zürich: 20,6 Millionen. Kunsthaus: 18,1 Millionen. Theater Neumarkt: 5,6 Millionen.

Vernachlässigte Pop-Kultur

Kinos werden kaum oder nicht gefördert, mit Ausnahme von Xenix und Filmpodium. Ebenso wenig Klubs und das Gros der kleinen Theater wie das Anundpfirsich oder Kleinkunstgruppen. Warum? Weil deren Programm der Unterhaltung für die Massen dient und folglich minderwertig ist? Nun ist es aber so, dass diese Orte der Volks- oder Pop-Kultur viel Publikum anziehen, deutlich mehr als Opernhaus und Theater. Das zeigen die Zahlen von 2023.

Das Schauspielhaus beispielsweise verzeichnete 2023 gerade einmal 94 577 Zuschauerinnen und Zuschauer, die Kinos hingegen 2,2 Millionen. Das sind mit Abstand am meisten Eintritte und fast zehnmal so viele, wie die Oper generierte, die vom Kanton seit Jahrzehnten den grössten Teil des Kulturbudgets gesprochen bekommt.

Wenn man die Subventionen nun ins Verhältnis zu den aktuellen Zuschauerzahlen setzt, ergibt sich folgendes Bild: Wer 2023 in die Oper ging, dessen so schon teures Ticket war von der steuerzahlenden Allgemeinheit mit 608 Franken subventioniert. Ein Ticket fürs Schauspielhaus mit 441 Franken. Bemerkenswert: eines für das Theater Rigiblick, das mit knapp 700 000 Franken subventioniert wird, mit gerade einmal 17 Franken.

Wer hingegen einen Abend in einem der privat geführten Klubs verbringt, hat auch Gelder in Anspruch genommen, aber keine öffentlichen, sondern wahrscheinlich Sponsoren- oder Stiftungsgelder. Und wer einen Schweizer Film im Kino sieht, in dessen Ticket steckt öffentliches Geld aus der Filmförderung. Je weniger Publikum der Film anzieht, desto mehr.

Kinos oder Klubs wie «Bogen F», «Helsinki», «Mascotte», «El Lokal» und «Papiersaal» wären wertvoll im Sinne der von Kanton und Stadt formulierten Ziele. Denn das sind jene Orte, die diese vielgerühmte «Vielfalt» pflegen. Der Eintritt ist erschwinglich. Nichts signalisiert Exklusivität wie in der Oper, im Theater und im Kunsthaus. Es findet diese Durchmischung von Bevölkerungsschichten statt, die Stadt und Kanton als wichtiges Merkmal von Kulturveranstaltungen nennt. Diese Kulturorte beherbergen Bands jenseits des Mainstreams und geben auch heimischen Künstlerinnen und Künstlern eine Bühne, was man als Beitrag zur Kulturförderung verstehen kann.

Und trotzdem werden diese Orte von Stadt und Kanton vernachlässigt. Daraus muss man schliessen: Zürich muss sein Kulturbild überdenken und sich endlich an sein eigenes Leitbild halten, sonst fördern Stadt und Kanton weiterhin an den Bedürfnissen eines grossen Teils des kulturinteressierten Publikums vorbei – interessiert an einer Art von Kultur, die nicht dem Bild aus dem 19. Jahrhundert entspricht. Die heutige Förderpolitik setzt die «Vielfalt» aufs Spiel, statt sie zu stützen, weil privat geführte Kulturorte sich nicht länger selbst zu tragen vermögen. Die Konsequenz wäre, dass die «Kulturstadt» Zürich zur Stadt der Grossveranstalter wird. Überleben würde nur die marktkonforme Kultur.

«Wir werden von der Stadt dafür gelobt, dass wir ein Programm abseits des Mainstreams bieten, lokalen Bands eine Bühne geben. Die Stadt findet uns toll, aber sie gibt uns nichts», sagt Kaspar Jucker, Gründer des «Bogen F». «Niemand fragt, wie es uns geht. Es machte auch niemand darauf aufmerksam, dass eine neue Subventionsrunde anstand. An Personal, das sich darum kümmern könnte, fehlte es der Stadt nicht.»

Dass es Zeit wäre für eine modernisierte Förderpraxis, wurde während der Pandemie deutlich. Da hatten nicht nur Oper und Schauspielhaus Ausfallentschädigungen beantragen können, sondern auch Kinos und Klubs. Die Stadtregierung verspricht zwar eine Kulturförderung, die der Innovation dient, aber liebt doch den Status quo. Zwei Beispiele: Simon Maurer ist seit 2001 Direktor des städtisch geführten Helmhauses, eines Orts für lokale und junge Kunst. Und: «Die Stadt fördert jene weiter, die sie schon lange fördert: den Jazzklub Moods, das Jugendkulturhaus Dynamo, die Rote Fabrik», so der «Bogen F»-Gründer Jucker.

Verliebt in den Status quo

Es spricht wenig dafür, dass man heute unter Kultur dasselbe zu verstehen haben soll wie vor hundert Jahren. In ihrem Kulturleitbild «bekennt sich die Stadt Zürich zu einem weit gefassten Kulturbegriff» und beruft sich auf die Unesco, die Kultur als «die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte» betrachtet, «die eine Gesellschaft kennzeichnen. Das schliesst nicht nur Kunst und Literatur ein.»

Aber davon ist Zürichs traditionelle Kulturförderung ziemlich weit entfernt. Rein mathematisch ergäbe sich folgendes Bild, wenn die Subventionen 2023 auf die Anzahl der effektiven Eintritte verteilt würden: Die Kinos bekämen 115,7 Millionen, das Kunsthaus 26 Millionen, die Oper 7,6 Millionen, die Tonhalle 5,2, das Schauspielhaus 4,8.

Das wäre natürlich unfair und nicht praktikabel. Aber dieses Zahlenspiel zeigt auf, dass in Zürich endlich eine Diskussion darüber notwendig ist, was in welchem Umfang gefördert werden soll. Die heutige Förderpraxis lässt sich einzig dadurch rechtfertigen, dass sie historisch so gewachsen ist.

 

(Am 25.5.2024 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Petra Orosz / Keystone)

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